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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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und ihn zum Mann genommen hätte? Ihr wäre es doch egal gewesen – Hauptsache, sie war in den Stand einer Ehefrau erhoben und in Russland willkommen. Und ihre Schwester hätte Matthias heiraten können. Mit diesem Arrangement wäre wenigstens Eleonora glücklich geworden und Christina brauchte sich in all dem verfluchten Elend nicht noch die Schuld daran zu geben, ihre Schwester mit ins Unglück gerissen zu haben.
    Ach, hätte sie doch bloß geredet, ihre verstockte, in sich gekehrte schöne Schwester. Aber das hatte ihr wohl der Stolz verboten.
    Was konnte sie jetzt noch tun? Die Peitschenhiebe schloss sie mal rundweg aus. Und dem Pastor gegenüber einzugestehen, dass Alexandra gar nicht Matthias’ Kind war und dass sie unter Eid versichern könne, dass sie die Ehe noch nie vollzogen hatten – auch das schloss sie aus, obwohl es bedeutet hätte, dass ihre Trennung so simpel verlaufen würde wie die von Anja und Franz.
    Christina ließ sich auf den Stuhl am Küchentisch fallen, streckte die Beine von sich und legte den Kopf in den Nacken. Ein tiefes Stöhnen entrang sich ihrer Brust, als sie sich mit beiden Händen die Stirn massierte.
    »Mama?«
    Sie richtete sich auf. Alexandra tapste in ihrem bodenlangen, geflickten Nachthemd in den Raum. Als sie heran war, legte sie ihre Hand auf Christinas nackten Unterarm und streichelte ihn. Ihre Finger hinterließen eine Fettspur. Wahrscheinlich hatte sie noch vor dem Schlafengehen von den mit Bucheckernöl beträufelten Pfannkuchen genascht. Sie entblößte die dunkle Lücke in ihren Vorderzähnen, als sie den Mund öffnete.
    »Ich glaube nicht, was die Leute erzählen«, sagte Alexandra mit ihrer hohen Stimme und einem Blitzen in den Augen. Sie trat noch näher heran und schlang die Arme um ihre Mutter. Sie drückte ihre Wange an Christinas Schürze. »Sie sagen, dass du dem Vater Gift gegeben hast, damit er stirbt. Das hast du nicht, oder? Du willst doch nicht, dass der Vater tot ist.«
    Christina löste die Arme des Kindes und wandte sich halb von ihm ab. »Geh zu Bett, Alexandra.«
    »Darf ich noch auf deinen Schoß? Ich träume schlecht.«
    Christina rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Jetzt auch noch das Kind! Reichte es nicht für heute? »Geh!«, schrie sie die Kleine an. »Leg dich ins Bett, verdammt! Ich will dich hier nicht sehen. Hast du das verstanden?«
    Alexandra trat einen Schritt zurück, und der flehentliche Ausdruck in ihren Augen veränderte sich. Christina kannte diesen Blick – er hatte etwas teuflisch Glühendes, und er erinnerte sie mehr als alles andere an Johann Röhrich, dessen verfluchter Samen in diesem einzigen Fall nicht im Stroh vertrocknet war.
    Sie seufzte und barg das Gesicht in den Händen, während die Schritte des Kindes sich entfernten. Als wenig später leises Schluchzen aus dem Kinderbett drang und aus Matthias’ Schlafkammer wieder krampfhaftes Würgen zu hören war, warf sich Christina eine Stola über und verließ die Hütte.
    Luft, dachte sie. Ich brauche Luft. Doch auch nachdem sie die Tür hinter ihrer Familie zugeworfen hatte, drehten sich ihre Gedanken wie schwarze Wolken in einem Wirbelsturm, und über allem stand die verzweifelte Frage: Wie mag es Daniel in Moskau ergehen?

34. Kapitel
    Bei Moskau, Sommer 1772
    W eg von hier! Daniel schloss die Schenkel um den Leib des Pferdes und beugte sich weit über den Hals des braunen Hengstes, während er aus der Stadt hinauspreschte. Steine und trockene Erdbrocken flogen ihm bis ins Gesicht.
    Nichts hatte er dabei außer dem, was er am Leib trug. Das kostbarste Gut, dass er bei seiner Flucht aus der Stadt rettete, war seine Gesundheit.
    Alles andere konnte er ersetzen.
    Seiner stumpfsinnigen Arbeit in der Seidenmanufaktur würde er genauso wenig nachtrauern wie dem Ausblick auf die Zwiebeltürme der Basilius-Kathedrale vom einzigen Fenster seines Dachzimmers, das ihm ein verhutzeltes Mütterchen zu einem Wucherpreis überlassen hatte.
    Ein paar Freunde hatte er gefunden, die er vermissen würde und deren ungewisses Schicksal ihn gewiss wiederholte Male den Schlaf kosten würde. Von einigen wusste er, dass sie auf den Landsitz von Verwandten oder adeligen Bekannten flüchten konnten. Andere hatten wie er in den letzten Stunden, bevor die Tore verriegelt wurden, mit nichts als dem Willen zu überleben in der vom Tod überschatteten Stadt die Pferde gesattelt, um so viele Meilen wie möglich zwischen sich und den Schwarzen Tod zu bringen.
    Sie stoben in alle

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