Weiße Nächte, weites Land
konnten die Pesthospitäler und isolierten Pesthäuser außerhalb der Stadt gar nicht errichtet werden.
Öffentliche Bäder wurden geschlossen, der Schnaps- und der Lumpenverkauf wurden untersagt und öffentliche Versammlungen verboten.
Dies alles geschah vor Daniels Augen, doch es dauerte ein paar Wochen, bis er begriff, dass er alle Brücken hinter sich abbrechen musste, um der Hölle zu entkommen. Irgendwie schien bis dahin alles nur vorübergehend zu sein, die eigens ins Leben gerufene Pestbehörde agierte zielstrebig.
Dass er keine weitere Stunde zögern durfte, wurde ihm erst klar, als ihm das Gerücht zu Ohren kam, die Stadt solle komplett unter Quarantäne gestellt werden, damit sich der Schwarze Tod nicht übers ganze Land ausbreite.
Zu dem Zeitpunkt bemerkte er auch, als hätten sie nicht vorher schon da gelegen, in vielen Ecken und Winkeln der Stadt neben den verquollenen Leibern toter Ratten die zerlumpten menschlichen Gestalten, die noch nicht zu den Pesthäusern abtransportiert waren, er hörte ihr Stöhnen und Flehen, sah die von Blut durchtränkten Kleider, die nässenden Schwären und Beulen, und der süßliche Gestank nach Verwesung stieg ihm in die Nase.
Nein, ein Ausharren in der Stadt, ein Warten auf das Abklingen der Epidemie und ein Vertrauen auf die eigene Konstitution erschienen ihm auf einmal wie ein sicheres Todesurteil. Noch in derselben Stunde schwang er sich auf sein Pferd und ritt davon, ohne noch einmal nach seinen Freunden, seinem Dienstherrn oder der Wirtin gesehen zu haben.
So sollte sein russisches Abenteuer nicht enden.
Noch nicht.
Er wollte leben.
Es gab noch viel zu tun für ihn.
35. Kapitel
Kolonie Waidbach, Sommer 1772
D u weißt nicht, was du redest!« Veronica umfasste Alexandras Schultern und schüttelte sie. Die Augen des Kindes waren tränenfeucht, die Unterlippe trotzig vorgeschoben. »Weißt du überhaupt, was du mit dieser ungeheuerlichen Behauptung anrichtest?«
»Aber wo ich es doch gesehen habe! Und wenn ich den Hirsebrei gegessen hätte, würde ich jetzt sterben.« Alexandra hielt die Hände verkrampft. Ihr Körper war angespannt, nur ihr Kopf wackelte auf den Schultern, während Veronica sie schüttelte.
Vor dem Schulhaus, in dem die Kinderstube untergebracht war, hatte Veronica mitbekommen, wie sich Alexandra inmitten der anderen Schüler hervortat und mit zitternder Stimme ihre Angst zum Ausdruck brachte, die eigene Mutter könnte auch ihr nach dem Leben trachten. Die anderen Kinder hatten sie begierig umlagert. Eine solch spannende Geschichte hörte man in der Kolonie selten – eine Mutter, die versucht, erst den eigenen Mann, dann das Kind zu vergiften.
Veronica fuhr herum, als sie eine Hand auf ihrem Rücken fühlte, und blickte direkt in Anton von Kersens graue Augen, in denen ein schwaches Funkeln lag. »Nun lass sie doch, Veronica! Du redest ihr das ja geradezu aus! Dabei weiß man doch: Narren und Kinder sprechen die Wahrheit.«
Veronica klappte der Kiefer hinunter. »Du glaubst wohl selbst nicht, dass Christina tatsächlich zu so etwas fähig wäre! Wir kennen sie lange genug – sie ist leichtlebig und unmoralisch, ja, aber sie ist doch keine Mörderin, Gott im Himmel.«
Von Kersen wiegte den Kopf, während die Kinderschar miteinander tuschelte. Dann stoben alle zu ihren Hütten davon.
Veronica wollte sie aufhalten und hob eine Hand, aber es war vergebens. Sie stieß die Luft aus, so dass eine Haarsträhne an ihrer Stirn flatterte, während sie auf Alexandra hinabstarrte. »Was hast du bloß angestellt, Kind! Die anderen werden ihren Eltern davon erzählen …«
Alexandra zuckte die Schultern. »Aber wenn es doch die Wahrheit ist.« Dann flitzte sie los. Ihre Füße trommelten laut auf den Boden.
Veronica biss sich auf die Lippe, als sie ihr mit bangen Vorahnungen hinterherschaute.
Von Kersen linste prüfend nach rechts und links, bevor er den Arm um sie legte und sie an sich zog. Offiziell war Veronica seine Haushälterin und Mitarbeiterin im Schulbetrieb der Kolonie.
Die Wärme in den Armen des kleinen Mannes, der nicht müde wurde, sich an ihrem üppigen Körper zu berauschen, tat Veronica gut und lenkte sie in vielen Nächten von ihren Erinnerungen ab. Erinnerungen an Frieda und Adam, damals, als sie noch eine hoffnungsvolle junge Familie waren, deren Zukunft in diesem Land glänzend vor ihnen zu liegen schien.
In dieser Stunde aber waren ihr seine Zärtlichkeiten zuwider. Misstrauisch musterte sie ihn. »Du magst
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