Weiße Nächte, weites Land
rieten. »Trinken soll er«, fügte Anja hinzu. »Wenn er sich irgendein Gift eingefangen hat, schwemmt das Wasser es am ehesten hinaus.«
Dr. Cornelius Frangen nickte, den Zeigefinger nachdenklich auf den fein geschwungenen Mund gelegt. An seinem Kinn und seinen Wangen wuchs noch Flaum. »Ich werde mich mit meinen Kollegen in der Sarepta-Kolonie beraten«, versprach er mit betont ernster Miene, und Eleonora dachte: Wenn das mal nicht zu spät ist …
Bang schaute sie zwischen den beiden Heilkundigen hin und her und zögerte, bevor sie die Frage stellte, die ihr den Mund auszudörren schien. »Könnte es … könnte es der Schwarze Tod sein? Matthias hat erzählt, dass die Pest ausgebrochen ist in Moskau.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern, ihre Augen brannten.
Cornelius trat einen Schritt vor, so dass Anja hinter seinen schmalen Schultern verschwand, und nahm nun den Zeigefinger vom Mund, um ihn dozierend in die Luft zu recken. Die Augen hielt er dabei geschlossen, als zitiere er aus einem Lehrbuch. »Die Pest kann ich ausschließen. Sie beginnt stets mit hohem Fieber und Kopfweh – beides ist bei dem Patienten nicht feststellbar. Danach erst folgen Krämpfe und Schüttelfrost, bevor die typischen Beulen auftreten, die man aufschneiden kann, um ein Überleben des Patienten zu ermöglichen. Fängt er allerdings an zu husten oder bilden sich schwarze Flecken unter der Haut, gibt es keine Rettung.«
Anja, Eleonora und auch Christina, die im Türrahmen lehnte, erschauerten bei den Worten des Arztes. Eleonora bekreuzigte sich. »Dem Herrgott sei Dank. Es ist nicht der Schwarze Tod.«
Das Gerücht, Matthias könnte ihnen die Pest ins Dorf geschleppt haben, versiegte so schnell, wie es aufgekommen war. Aber bald schon wurde es abgelöst von einer weiteren Vermutung, die hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde und die nicht so schnell zu widerlegen war: Konnte es nicht sein, dass dieses Miststück von Ehefrau ihren Ehemann vergiften wollte?
Einer raunte es dem anderen zu, und alle nickten und zogen die Stirn kraus. Wenn man in der Kolonie Waidbach jemandem ein solch schändliches Handeln zutraute, dann Christina.
Der Weber-Schwester kam dieses Gerücht auch zu Ohren, doch sie ließ sich keine Erschütterung über diesen grausamen Verdacht anmerken. Nur Eleonora ahnte, dass es sie tiefer traf, als sie sich den Anschein gab, aber um Christina beizustehen, fehlten ihr die Zeit und die Kraft.
Keine Stunde ließ sie Matthias allein, stand vom dreibeinigen Hocker neben seinem Bett nur auf, um in ihrer Hütte nach dem Rechten zu sehen, aber dort wusste sie Sophia bestens versorgt von Klara. Nein, ihr Platz war jetzt hier, an Matthias’ Seite.
Immer und immer wieder flößte sie ihm frisches Wasser ein, wechselte seine Laken, stellte Töpfe mit dampfender Kamillelösung in der Kammer auf, wusch den schweißnassen Körper und half ihm, frische Nachtwäsche anzulegen.
Keinen Brocken Brot, keine wässerige Karottensuppe behielt er bei sich, schüttelte sich in Krämpfen und übergab sich in die Blechschüssel, die Eleonora ihm hinhielt, während sie über seine klebrig feuchten Haare strich und tröstend auf ihn einredete.
Wenn er die Lider hob, sah sie, wie geweitet seine Pupillen waren, und wenn er nach ihrer Hand fassen wollte, griff er daneben. »Ich … ich sehe alles verschwommen oder doppelt«, flüsterte er. »Irgendwas stimmt mit meinen Augen nicht …«
»Gib nicht auf!«, flüsterte sie zurück. »Du musst es schaffen, Matthias. Wir brauchen dich.« Sie drückte seine Hände und hauchte einen Kuss auf seine Finger.
»Mein Mund ist so trocken …«
Wieder griff sie zu dem Becher und setzte ihn an seine Lippen, doch die Hälfte des Wassers lief sein Kinn hinab, weil ihm das Schlucken schwerfiel.
In dieser Situation, wo es um Leben und Tod ging, herrschte Einigkeit darüber, wer von den beiden Schwestern sich um Matthias Lorenz kümmerte. Christina stellte es nicht in Frage, dass Eleonora den Krankendienst übernahm, und Eleonora unterließ jeden Vorwurf gegenüber ihrer Schwester.
Hin und wieder lugte Christina zur Tür herein, aber, wie es Eleonora schien, eher, um zu schauen, ob Eleonora noch in der Lage war, den Kranken zu versorgen, als sich nach Matthias’ Wohl zu erkundigen.
»Da wird dein Herzenswunsch ohne Prügel in Erfüllung gehen«, stieß Matthias einmal, als Christina hereinschaute, schwer atmend hervor und verzog die rissigen Lippen zum Versuch eines
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