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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Himmelsrichtungen davon.
    Daniel brauchte keine Sekunde lang darüber nachzudenken, wohin es ihn zog.
    Seit den Anfangstagen der Kolonie Waidbach war das Dorf für ihn ein sicherer Hafen, in den er einlaufen konnte, wann immer ihm der Wind in den Weiten des Landes zu heftig ins Gesicht blies. Sosehr es ihn reizte, jeden Tag Neues kennenzulernen – nach einer gewissen Zeit trieb ihn eine unbestimmte Sehnsucht zurück in das Nest, wie er die Kolonie Waidbach bei sich nannte. Die Zähigkeit der Menschen dort rang ihm höchste Bewunderung ab – wie sie nach Dürrekatastrophen, Seuchen und Überfällen immer wieder von vorn begannen, wie sie nicht aufgaben und auf ihre Art zusammenhielten und sich an ihren gemeinsamen Traum klammerten, sich eine Heimat zu gestalten. Manches Mal fühlte Daniel einen neidischen Stich – wäre das Leben nicht einfacher, wenn er sich diesen Menschen anschließen, in der Geborgenheit der Gemeinschaft Sicherheit finden würde?
    An Freundschaften und Affären mangelte es ihm nicht – immer war einer zur Hand, mit dem er die Krüge klingen lassen konnte, oder eine, die ihm das Bett wärmte.
    Aber es gab diese langen einsamen Abende, an denen er sich fragte, wohin er eigentlich trieb und was er sich erhoffte. Im Gegensatz zu ihm stand den Menschen in Waidbach ein klares Ziel vor Augen. Wenn ihn die Melancholie überfiel, sehnte sich Daniel genau danach.
    Und nach Christina.
    Ja, auch dies gestand sich Daniel ein. Ihre Leidenschaft und Wildheit, ihre Lebendigkeit und ihr Witz, ihre Schönheit und ihr Frohsinn – sie vereinte all das in sich, was er sich von einer Frau erträumte.
    Er wusste, dass sie sich jederzeit willig in eine Affäre mit ihm stürzen würde, und diese Schamlosigkeit erhöhte ihren Reiz. Dass er sich bisher nicht darauf eingelassen hatte, war einzig seiner Moral geschuldet. Christinas Mann Matthias war sein Freund. Eine Liebelei mit dessen Frau zöge schwerwiegende Folgen nach sich.
    Nicht zuletzt würde er zu einem unerwünschten Fremden in der Kolonie werden, die ihm so am Herzen lag.
    Er wandte sich um, als er in einen dichten Fichtenwald einritt, durch den der staubtrockene Pfad führte.
    Ob die Stadtoberen Verfolger ausschickten, um die Flüchtlinge zurückzuholen?
    Immer nach Süden, immer nach Süden, in die Dämmerung hinein. Er würde die Nacht durchreiten, um seinem Ziel näher zu kommen und damit er nicht mehr mit der Peststadt in Verbindung gebracht werden konnte.
    Mit allem hatte er auf seinen Reisen durch Russland gerechnet, aber nicht mit dem Schwarzen Tod.
    Wie hatte er sich so lange und bis es fast zu spät war blind stellen können? In früheren Jahren hatte er sich immer wieder gefragt, warum Menschen sich oft schwertaten, ihre Bleibe zu verlassen, obwohl das Unheil über ihnen so deutlich schwebte, dass man es fast mit den Händen greifen konnte. Nun hatte er am eigenen Leib erfahren, dass man sich blind und taub stellen konnte und die Hoffnung, alles würde sich zum Guten kehren, über jede Vernunft erhob.
    In Moskau kannte jeder die Viertel, in denen die Ratten auf den Mauerbrüstungen und schäbigen Balkonen, auf den mit Unrat bedeckten Straßen und Durchgängen zum vertrauten Bild gehörten. Aber gab es solche Viertel nicht in jeder Stadt?
    Hätte man den Ausbruch der Krankheit verhindern können? Der fatalste Fehler war gewiss gewesen, die in einem Soldatenhospital vor einigen Monaten ausgebrochene Seuche als Fleckfieber zu diagnostizieren. Kein Offizieller wagte dies in Frage zu stellen. Hinter vorgehaltener Hand jedoch oder laut grölend in den Wirtsstuben äußerte manch ein Großmaul den Verdacht, es könne sich bei jener seltsamen Krankheit um die Pest handeln. Um die vorlauten Redner mundtot zu machen, setzte es Backpfeifen, die nicht selten zu wüsten Raufereien führten. Mit dem Schwarzen Tod wollte keiner in Berührung kommen, und wenn die Ärzte von Fleckfieber sprachen, gab es nichts zu unken.
    Man verrammelte und verriegelte nur dieses eine Hospital; Maßnahmen zum Schutz gegen eine weitere Ausbreitung der Krankheit hielt man für unnötig. Der Senat in Sankt Petersburg erließ sogar einen Ukas mit dem Inhalt, dass es sich bei den Moskauer Todesfällen nicht um die Pest handele. Sogar die Zarin weigerte sich, der Krankheit den bedrohlichen Namen zu geben, und wog die Moskauer damit in trügerischer Sicherheit, die unzählige Menschen jetzt mit dem Tod bezahlten.
    In rasendem Tempo breitete sich die Krankheit aus – so schnell

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