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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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ohne Grund in den Arm biss und Stein und Bein schwor, dies sei der Hund Lambert gewesen, obwohl die Abdrücke ihres lückenhaften Milchgebisses deutlich zu erkennen waren und Sophia lange zitterte, wenn sie sich ihr nur näherte; wenn sie mit einer Kuhglocke durch Klaras Hühnerstall raste und sämtliches Federvieh in Todesangst versetzte; wenn sie dem Lehrer von Kersen heimlich und in niederträchtiger Absicht einen spitzen Holzspan in den Apfel drückte, den er jeden Vormittag mit kräftigen Bissen zu verspeisen pflegte …
    Nein, Alexandra machte es den Menschen, die es gut mit ihr meinten, nicht leicht, sie zu lieben. Aber Eleonora verzichtete auf jede Form von Strenge und auf Strafen – zu stark war ihr Mitgefühl mit der Kleinen, die das Schlimmste erlebte, was einem Kind passieren konnte: von der Mutter verlassen zu werden.
    Vor Groll auf Christina, die dem Kind dies angetan hatte, wollte Eleonora manchmal schreien und die Fäuste in ihr Kissen schlagen. Aber dann war da Matthias, der sanft den Arm um sie legte und ihr zuflüsterte: »Du kannst deine Schwester nicht ändern, Eleonora. Sie denkt so anders als du.«
    Niemand im Dorf nahm Anstoß daran, dass Matthias gleich nach Christinas Weggang mit Alexandra in Eleonoras Hütte übersiedelte.
    War es nicht verständlich, dass er der jungen Frau, die sich ganz allein um die jüngere Schwester und die Tochter kümmerte und die von morgens bis abends bei allen Gemeinschaftsarbeiten in der Kolonie bis zur Erschöpfung mitschuftete, die Krankenpflege erleichterte, indem er ein Lager in ihrer Nähe bezog?
    Und als es ihm besserging, hatte man sich in Waidbach daran gewöhnt, dass Matthias und Eleonora gemeinsam einen Haushalt betrieben. Es gab nur wenige, die ihnen schräge Blicke zuwarfen, und trotzdem litt Eleonora.
    Nachdem Sophia und Alexandra an diesem Nachmittag auf das abgeerntete Weizenfeld gelaufen waren, um die übrig gebliebenen Ähren einzusammeln, und Klara sich mit rosig überhauchten Wangen verabschiedet hatte, um mit Sebastian die Ziegen zum Weiden auf die Steppe zu treiben, ließ sich Eleonora Matthias gegenüber auf einen Stuhl fallen und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Sie wusste, dass sie müde aussah und dass die schwere Arbeit sie viel zu früh altern ließ und verhärmt machte.
    An Tagen wie diesem fühlte sie sich wie eine greise Frau, und das Pochen ihres Herzens, wann immer sie Matthias nah war wie in diesem Moment, erschien ihr wie ein schmerzlich vermisster Genuss.
    Matthias griff über den Tisch und streichelte ihre Wangen mit einem Finger. »Du tust so viel für uns alle, Eleonora«, murmelte er. »Ich weiß gar nicht, wie ich das je wiedergutmachen kann.«
    Sie versank in seinem Blick, drohte zu ertrinken in all der Liebe, die darin lag. Matthias beugte sich vor und hauchte einen Kuss auf ihre Lippen, bevor sie das Gesicht abwandte.
    »Wir dürfen das nicht«, brachte sie mit erstickter Stimme hervor.
    Matthias holte tief Luft, lehnte sich im Stuhl zurück und schaute an die Holzdecke, als suchte er da nach einer Erwiderung. Eleonora hörte sein Seufzen, und als er sich wieder vorbeugte, sprach aus seinem Gesicht eine solche Entschlossenheit, dass sich ihr Puls beschleunigte. Die Knöchel seiner Hände traten weiß hervor, während er die Tischkante umfasste, als brauchte er einen Halt bei dem, was er ihr zu sagen hatte.
    »Eleonora … Ich … Christina und ich, wir waren niemals Mann und Frau.«
    Eleonora zog die Brauen hoch, musterte den Mann, den sie so lange schon liebte. Was erzählte er da? Das konnte doch nicht sein! »Der lebende Beweis für das Gegenteil läuft gerade über das abgeerntete Weizenfeld«, erwiderte sie mit einem bitteren Unterton.
    Matthias schüttelte den Kopf. »Alexandra ist nicht meine Tochter.«
    Eleonoras Blut schien sich von einer Sekunde auf die andere in Eiswasser zu verwandeln. Was sagte er da? »Aber … aber wie kann das sein? Wessen Tochter ist sie dann?«
    Matthias grinste schief. »Wie das sein kann? Da frag deine Schwester – ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, wer der Vater ist. Ich weiß nur, dass sie das Kind bereits unter ihrem Herzen trug, als wir vor den Traualtar getreten sind.«
    Seine Worte hallten in Eleonora mit tausendfachem Echo wider, während sie zu verstehen versuchte, was dieses Geständnis bedeutete. »Du hast es gewusst, weil du … weil ihr beide … niemals zusammengelegen habt. Und du hast ihr Geheimnis gewahrt, um ihre Ehre zu schützen«,

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