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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Baum?«
    Christinas Hand fuhr an ihren Hals. Waren die jetzt alle verrückt geworden? Hatten sich die Gerüchte doch hartnäckiger gehalten, als sie vermutet hatte? War es ein Fehler gewesen, das Gerede der Leute auf die leichte Schulter zu nehmen? Wie konnten sie nur … Wie konnten sie ihr nur ein solch ungeheuerliches Vergehen zutrauen!
    Ihre Hände begannen zu zittern. War der Mob noch zu bremsen? Was, wenn sie in ihrem Wahn tatsächlich kurzen Prozess mit ihr machten?
    Bernhard hob eine Hand und straffte die Schultern. »Haltet ein! Niemand wird hier aufgehängt! Niemand wird ohne ordentlichen Prozess bestraft.«
    »Vor welchem Gericht denn?«, stieß eine ältere Frau hervor. »Wir sind hier für uns selbst verantwortlich und können allein entscheiden, wen wir unter uns haben wollen und wen nicht. Und eine Mörderin unter uns zu wissen, darauf kann jeder von uns verzichten!« Zustimmung brandete auf, und wieder hob Bernhard die Hand. Er sprach so laut, dass seine Worte weit über die Steppe hallten. »Ihr täuscht euch! Wir sind der deutschen Behörde in Saratow unterstellt. Wenn es einen Streitfall gibt, müssen wir uns an sie wenden.«
    Anja trat einen Schritt vor, streifte die Kapuze ab und hob das Kinn. »Wie kommt ihr bloß darauf, dass Christina ihren Mann vergiften wollte? Von einer Vergiftung weiß weder der Arzt noch ich etwas. Auf unser Urteil könnt ihr euch ja wohl verlassen.«
    »Hört, hört!«, klang es aus den hinteren Reihen. »Ihre Tochter hat es doch mit eigenen Augen gesehen! Sie hat beobachtet, wie sie Gift unter den Abendbrei rührte und nur ihn davon essen ließ. Das arme Kind war völlig verängstigt. Es wäre tot, wenn es von dem Brei gekostet hätte.«
    Christinas Gliedmaßen fühlten sich taub an, ihre Knie schienen wie weiches Wachs nachzugeben.
    Alexandra erzählte diesen Unsinn? Wie kam dieses Kind dazu, eine solche Ungeheuerlichkeit in die Welt zu setzen?
    »Ihr gebt auf die Phantasiegeschichten eines vorlauten Mädchens mehr als auf das Urteil der Heilkundigen?«, rief Anja mit ihrer hellen, durchdringenden Stimme über das Stimmengewirr hinweg.
    »So etwas kann sich ein Kind nicht ausdenken!«, parierte eine jüngere Frau, die selbst ein Mädchen auf dem Arm trug. »Alexandra muss Zeugin gewesen sein – anders ist das nicht zu erklären!«
    Herr im Himmel, hilf!, schoss es Christina durch den Sinn. Was soll ich bloß tun, wenn der Mob Anja und Bernhard umstimmt? Würde sie noch in dieser Nacht an einem kräftigen Ast im Forst baumeln? Und das nur, weil diese Kröte Lügengeschichten über sie in die Welt setzte? Wie sehr mussten die Kolonisten sie hassen, wenn die nachlässig oder ganz gezielt gesetzten Worte einer knapp Sechsjährigen sie dazu brachten, die Todesstrafe zu fordern!
    Während Bernhard und Anja leise miteinander redeten – offenbar, um sich über das weitere Vorgehen zu beraten –, nahm in Christinas Hirn ein Gedanke Gestalt an wie der Ton auf einer Töpferscheibe.
    Sie sog die Luft tief in die Brust, reckte kriegerisch das Kinn und setzte sich mit energischen Schritten in Bewegung. Ohne nach links oder rechts zu sehen, stolzierte sie an den aufgebrachten Dörflern vorbei direkt auf den Vorsteher und seine Frau zu.
    Bernhard packte ihr Handgelenk und zog sie eng an seine Seite, als befürchtete er, die anderen könnten sie überwältigen und mit sich schleifen.
    Christina befreite sich aus seinem Griff, nickte ihm zu und baute sich vor der Menschenmenge auf. Die in den ersten Reihen spuckten auf sie, schüttelten die Fäuste in ihre Richtung, der Lärm schwoll an.
    Christina reckte sich zur vollen Größe und starrte mit hocherhobenem Kopf auf ihre Widersacher. »Was für ein selbstgerechtes Pack ihr seid!«, rief sie und spürte im gleichen Moment Bernhards Finger auf ihrer Schulter. Sein Griff schmerzte, und sie verzog für einen Moment das Gesicht.
    Einige aus der Menge traten ein paar Schritte vor wie ausgehungerte Wölfe.
    Christina gab sich unerschrocken, holte tief Atem. »Ich habe meinen Mann nicht vergiftet. Jeder, der das behauptet, ist ein Lügner. Ich habe keine Erklärung dafür, warum die Tochter eine an den Haaren herbeigezogene Geschichte verbreitet. Ich bin unschuldig! Aber das ändert nichts daran, dass ihr mich genauso anwidert wie ich euch. Ich verachte euch alle«, spie sie hervor. »Wie ihr euch hier abrackert und strampelt, wie ihr euch schicksalsergeben in dieses unwürdige Leben fügt. Was ist denn aus euren Träumen von einer

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