Weiße Nächte, weites Land
besseren Zukunft geworden? Ich sag’ euch eines: Meine Träume habe ich noch nicht begraben. Ich werde hier nicht versauern und darauf warten, dass ich entweder in der Bruthitze des Sommers auf dem Acker tot zusammenbreche oder mir einer der Wilden, die uns ständig überfallen, die Kehle aufschlitzt. Und ich sag’ euch noch eines: Ich werde die Kolonie verlassen. Noch in dieser Woche. Dann könnt ihr euch die Mäuler zerreißen und euch an Lügengeschichten ergötzen, wenn es sonst nichts gibt, was euer Gemüt in Wallung versetzt.«
Während sie sprach, nahm das Gemurmel immer wieder zu, Zwischenrufe wurden laut, üble Beschimpfungen wurden ausgestoßen, doch als sie endete, senkte sich Schweigen über die Rotte. Alle starrten sie an, begannen, das Gehörte zu verdauen, bis schließlich eine Frau rief: »Verschwinde endlich, du Schlampe! Und lass dich hier nie wieder blicken!«
Stampfender Beifall donnerte durch die Nacht.
Bernhard legte den Arm um Christina und zog sie an sich. »Geht jetzt, Leute!«, rief er über das Johlen und Poltern hinweg. »Geht in eure Hütten! Ich werde für morgen eine Versammlung einberufen.«
Widerwillig löste sich die Menge auf.
Christinas Schultern sackten nach vorn. Eine tiefe Ruhe erfüllte sie, gemischt mit Hochstimmung und Vorfreude, als perlte Champagner in ihren Adern.
Nun war es ausgesprochen, nun gab es kein Zurück mehr.
Sie hatten ihr keine andere Wahl gelassen.
Christina fühlte sich befreit und erlöst wie seit Jahren nicht mehr.
Leben würde sie.
Endlich leben, bevor ihr Herz versteinerte.
Ja, es war die richtige Entscheidung. Sie würde ganz von vorn beginnen, all die Not und die Armut, den Steppenstaub und die Backofenhitze, die erbärmlichen Hütten und das scheinheilige Dorfleben hinter sich lassen, und sie würde alle Last abwerfen: Matthias mit seinem Hohn und seiner Scharfzüngigkeit, die grundgute Eleonora mit ihren Moralpredigten, die wankelmütige Klara, die sich inzwischen aufführte, als hätte sie niemals gegen dieses Leben rebelliert, und dieses sonderbare Kind, für das sie nie einen Funken von Zuneigung entwickelt hatte.
Nichts würde sie mitnehmen – nur das blaue Kleid aus Samt und Seide und Spitze, das dort, wo es sie hinzog, viel besser passte als in dieser verfluchten Wildnis an den Ufern der Wolga.
Keinem im Dorf war der Aufruhr entgangen. Die meisten hatten sich ohnehin dem Pöbel angeschlossen, und diejenigen, die überrascht waren, stürzten aus ihren Hütten, um nachzusehen, woher der Lärm rührte. So auch Eleonora.
Sie hatte Matthias zugedeckt, als ihr seine ruhigen Atemzüge verrieten, dass er eingeschlafen war. Ja, ruh dich aus, sammle Kräfte!, dachte sie. Du wirst es schaffen.
Schließlich war sie auf die Straße geeilt.
Was bedeutete dieser Krawall?
Panik erfasste sie, als sie begriff, dass es um ihre Schwester ging.
Was rief Christina da? Dass sie die Kolonie verlassen wolle? Hatte sie jetzt vollends den Verstand verloren?
Als sich die Menge auflöste und Bernhard Christina in seine Hütte führte, stürmte Eleonora los.
»Was hast du getan?«, fuhr sie außer Atem die Schwester an, als sie sich ihr gegenüber auf einen Stuhl am Tisch des Vorstehers fallen ließ. »Wie konntest du dich dermaßen gehenlassen? Wie willst du das wieder rückgängig machen?«
Auf Christinas Gesicht lag ein seliges Lächeln, als sie ihre Schwester musterte. »Wie kommst du darauf, dass ich meine Entscheidung bereue? Ich werde genau das tun, was ich angekündigt habe: Ich werde die Kolonie verlassen.«
»Aber … Aber …« Eleonora legte die Hände an die Wangen. »Du darfst das nicht … Du kannst das nicht …«
»Wer sollte mir das verbieten? Der Regierung ist es egal, ob hier ein Kolonist mehr oder weniger haust. Solange es keine Massenflucht gibt, lassen sie mich ziehen, damit ich dem russischen Reich an einem anderen Ort von Nutzen sein kann. Und glaub mir, das werde ich!«
»Was ist mit Matthias … Alexandra … mit mir, Klara, Sophia …«
Christina stieß ein Lachen aus. »Ihr braucht mich alle nicht. Ich weiß, dass ihr euch für mich schämt und froh wärt, wenn ich lieber heute als morgen verschwinden würde.«
Eleonora schüttelte den Kopf so heftig, dass sich die schwarzen Haare aus ihrem Flechtkranz lösten. »Das ist nicht wahr, Christina. Du bist meine Schwester. Ich liebe dich …«
Christina reichte ihr beide Hände über den Tisch und knetete die Finger der Schwester. »Ohne mich wird es hier
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