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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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nicht letzten Endes feige, der Heimat den Rücken zu kehren, statt mit Tatkraft dafür zu sorgen, dass sich die Zeiten besserten?
    Im Dorf galt Matthias als schweigsamer, in sich gekehrter Mann. Es gab nur sehr wenige Menschen, die wussten, dass sein stilles Wesen nicht auf mangelnde Wissbegierde zurückzuführen war. Im Gegenteil, Matthias war wahrscheinlich wachsamer bei allem, was um ihn herum vor sich ging, als die meisten Männer in seinem Alter. Ihm behagte es nur nicht, sich mit anderen witzelnden Knechten auszutauschen. Wenn er sich mit den Männern seines Standes unterhielt, beschlich ihn stets das Gefühl, sie würden aneinander vorbeireden oder gar in verschiedenen Welten zu Hause sein. Mit seinen Ansichten und Urteilen erreichte er sie jedenfalls nur selten.
    Nicht anders erging es ihm mit Franz, der ihm immer noch ins Gesicht starrte und auf eine Antwort wartete. »Hat’s dir jetzt die Sprache verschlagen, oder was?«, herrschte er ihn an. »Mann, Matthias, wo lebst du? Kriegst du überhaupt etwas mit?«
    Matthias beulte mit der Zungenspitze die Wange aus. »Wie stellst du dir dein Leben in Russland vor?«
    Franz stieß einen verächtlichen Laut aus, schaute an die Wirtshausdecke und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. »Es juckt mich nicht, was in Russland auf mich wartet. Es kann nur besser sein als das, was wir hier haben. Oder siehst du das anders?«
    Matthias senkte den Kopf. In diesem Punkt stimmte er dem Bruder zu. Dass sie beide als Knechte auf dem Hof des ältesten Bruders arbeiteten, war eine Last, die sein Dasein nicht weniger überschattete als das von Franz. Aber ließ es sich in Russland als eigener Herr über einen Acker leichter leben?
    Schon früh hatte Matthias das Gefühl beschlichen, als Bauernsohn ins falsche Leben hineingeboren zu sein. Diese beunruhigende Empfindung war im Lauf der Jahre, da er zu denken gelernt hatte, nicht erträglicher geworden.
    Er hätte gern etwas gelernt, vielleicht sogar studiert, aber diese Wünsche auszusprechen wäre verschwendeter Atem gewesen in einer Familie, die seit Generationen die Weizenäcker bestellte. Stumm litt er unter der Aussicht, Knecht zu sein und Knecht zu bleiben, ewig auf derselben Stufe, grob, finster, unzufrieden, ein unglückliches Mittelding zwischen Lasttier und Mensch.
    Als er noch ein Kind war, waren dem Pastor seine Talente aufgefallen, und der Geistliche hatte bei den Eltern vorgesprochen. Einen begabten Knaben wie ihn könnte er sich als seinen Nachfolger in Waidbach vorstellen. Aber mit diesem Ansinnen prallte er bei den Lorenz’ gegen eine Steinmauer.
    Matthias wurde auf dem Feld gebraucht. Den Eltern war es recht, wenn der Schulunterricht nur im Winter betrieben wurde, da die Jugend im Sommer aufs Feld musste. Selbst im Winter fielen die Stunden häufig aus, weil kein Schulmeister da war oder nur ein unzuverlässiger Wanderlehrer, der dem Müßiggang mehr zugetan war als dem Unterrichten.
    Matthias musste das Vieh versorgen und Holz spalten, graben, jäten, gießen, an heißen Sommertagen Getreide schneiden und dreschen. Tagaus, tagein war es ihm zuwider.
    Einmal hatte ihn der Vater erwischt, wie er nach dem Schulunterricht allein in den Büchern, die er vom älteren Bruder übernommen hatte, schmökerte. Es hatte eine gehörige Tracht Prügel gesetzt, nach der er es kein zweites Mal gewagt hatte. Dafür hatte er einige Monate später eine andere Möglichkeit entdeckt, sich von der rauhen Wirklichkeit zurückzuziehen. Der Pastor hatte ihm einen Pinsel und Farben geschenkt, nachdem er im Pfarrhaus staunend und wie verzaubert vor einem in wunderbar warmen Farben gehaltenen Landschaftsbild gestanden hatte. Noch am selben Abend unternahm er daheim erste Versuche …
    Auch das Malen wurde in seiner Familie misstrauisch beäugt, aber es erschien dem Vater weniger verderblich, als die Nase in Bücher zu stecken.
    »Du hast recht, Franz«, sagte er schließlich leise, räusperte sich und wiederholte die Worte lauter, da sein Bruder eine Hand hinters Ohr legte und sich vorbeugte. »Allerdings ist mir die ganze Angelegenheit noch zu schwammig … Ich werde ein Treffen mit einem offiziellen Werber der Zarin vereinbaren und ein paar Fragen stellen, damit …«
    Mit zwei frischen Krügen Bier trat der Wirt Henrich Grimm an den Fenstertisch der beiden Brüder. Sein kugelrunder Bauch spannte die Lederschürze. »Zum Wohlsein!« Der Gerstensaft schwappte über die Ränder, als er die Krüge auf den

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