Weiße Nächte, weites Land
Wirtshauses strebte.
Matthias seufzte. Länger als eine Viertelstunde würde er seinem lüsternen Bruder nicht geben. Dann würde er ohne ihn ins Dorf zurückkehren, obwohl man in diesen Tagen, da aus der Not heraus mancher vormals brave Bauer die Wege belagerte, besser zu zweit durch die Wiesen und Wälder streifte.
Die Dämmerung brach bereits herein, als die beiden Brüder sich zu Fuß auf den Heimweg begaben. Das einzige Pferd, das die Lorenz’ besaßen, brauchte Hannes auf dem Feld.
Wenn sie zügig voranschritten, würden sie es von den Toren Büdingens auf dem Pfad entlang der Felder und durch ein Kiefernwäldchen in einer halben Stunde bis nach Waidbach schaffen.
Franz mit seiner Wampe torkelte und hielt nur unter Anstrengung mit seinem hochgewachsenen Bruder mit, der weit ausholend voranschritt.
»Hör mal, du Klugschwätzer …« Bierselig legte Franz einen Arm um die Schultern des Bruders, auch um das Tempo zu drosseln. »… willst du deinem Herzen nicht einen Stoß geben und dich ein klitzekleines wenig darauf freuen, mit mir zusammen in ein besseres Leben aufzubrechen? Du brauchst nicht zu juchzen wie eine bestiegene Magd oder zu springen wie ein Fohlen auf der Frühlingswiese. Ein Lächeln statt deiner Sauertopfmiene würde schon reichen.«
Matthias hob einen Mundwinkel. »Noch ist nichts sicher. Freuen werde ich mich gewiss, wenn wir angelangt sind und mit eigenen Augen sehen, worauf wir die kommenden Jahre aufbauen sollen.«
Franz verharrte so jäh, dass sein Körper nachschwang wie ein Baum in einer Windböe. »Das heißt, du willst es auf jeden Fall versuchen?«
»Ich werde morgen ins Werberbüro gehen und mich erkundigen. Danach sehen wir weiter.«
»Und wann, meinst du, sollen wir es Mutter und Hannes sagen?«, erkundigte sich Franz mit ungewohntem Kleinmut.
»Wenn es kein Zurück mehr gibt«, erwiderte Matthias. Er wusste, dass er gegen die Besessenheit seiner Mutter nur ankam, wenn er ihr etwas Starkes entgegensetzte. Absichtserklärungen und Träume würden nicht ausreichen, um ihm selbst die Sicherheit zu geben, die er brauchte.
Er schob den Arm des Bruders von seiner Schulter. Franz geriet ins Straucheln, fing sich und brachte sich mit einem langen Schritt wieder an seine Seite.
Sie erreichten den Kiefernwald, als die Sonne bereits untergegangen war. Nur ein schmutzig gelber Abglanz des Tageslichts hing noch im Westen. Die dicht stehenden Bäume hielten auch diesen zurück. Stumm und nachtschwarz lag das Wäldchen vor ihnen. Die würzige Luft mit dem Geruch nach Erde und Harz schlug ihnen beißend kalt entgegen.
Unwillkürlich beschleunigten die Brüder ihre Schritte.
Sie schwiegen jetzt und hingen ihren Gedanken nach, wobei sich Matthias sicher war, dass Franz’ Denken in eine andere Richtung ging als seines. Wahrscheinlich grübelte er darüber nach, ob er ins Gemeindebüro eindringen sollte, um die Liste seiner Strafen aufzuspüren und in Fetzen zu reißen. Oder er überlegte, ob er notfalls ohne ihn, Matthias, den Marsch nach Russland antreten sollte – in jedem Fall auf einem kaum gesetzmäßigen Weg.
Matthias gestand sich ein, dass es ihm leidtäte, seinen Bruder zu verlieren. Sie waren zwei Jahre auseinander, Franz mit seinen dreiundzwanzig Jahren war der Ältere und damit der mittlere der drei Lorenz-Brüder. Es gab noch Veronica, ihre einzige Schwester, die Zweitjüngste in der Familie. Sie hatte vor einem halben Jahr ins Nachbardorf Schönbrunn geheiratet und war gerade mit ihrem ersten Kind niedergekommen.
Obwohl von ihrem Temperament her grundverschieden, waren Matthias und Franz von Kindheit an Verbündete – vor allem gegen den ältesten Bruder Hannes, der früh die Rolle des Hoferben übernommen und sich damit gebrüstet hatte, und gegen die Mutter, die tausendmal häufiger die Rute auf ihre Rücken niedersausen ließ als auf den des vergötterten Ältesten. Der Hass auf diese Ungerechtigkeit hatte die beiden Jungen zusammengeschweißt, auch wenn sie unterschiedliche Wege fanden, damit umzugehen. Während Franz ein wahrer Meister darin wurde, zu flüchten und unterzutauchen, bis die Wut der Mutter verraucht war oder bis sie ein anderes Opfer gefunden hatte, starrte ihr Matthias als Kind in die Augen und verzog keine Miene, wenn sie zum Schlag ausholte. Immer hatte er sie angestarrt, die Lippen aufeinandergepresst. Manchmal waren Tränen geflossen, aber er war nicht weggelaufen, und er hatte niemals einen Ton von sich gegeben.
Die Schläge hatten
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