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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Hiebe gegeben, die Narben auf Franz’ breitem Rücken hinterlassen hatten. Obwohl sich sein Temperament im letzten Jahr gemäßigt hatte, war keine seiner Entgleisungen aus den früheren Jahren beim Gemeinderat in Vergessenheit geraten – sein Leumund in Büdingen und in den angrenzenden Dörfern war hochoffiziell und in den Spottreden der anderen Knechte der eines Ehebrechers und Raufbolds.
    Ob sich die Zarin so einen ins Reich holen wollte?
    Matthias bezweifelte es stark und verstand im Grunde seines Herzens, dass sich Franz nach fragwürdigen Wegen umschaute, um das alles hinter sich zu lassen.
    Aber eines stand fest: Wenn er Matthias dabeihaben wollte, würden sie den rechtmäßigen Gang wählen – mit allen Konsequenzen.
    »Noch eines müssen wir besprechen, bevor wir einen Entschluss fassen: Wie bringen wir es Mutter und Hannes bei?«, fuhr Matthias fort, als Franz in verbissenes Schweigen verfiel. Matthias ahnte, wie gern er seine unrühmliche Vergangenheit unter den Tisch kehren würde.
    Jetzt stöhnte Franz auf und vergrub das Gesicht in den Händen. »Hätte ich dich bloß nie darauf angesprochen, Matthias! Warum musst du alles so verzwickt sehen? Wer bestimmt, dass wir Mutter und Hannes einweihen müssen? Wir packen unser Gelumpe, stehlen uns einen Karren – und Abmarsch.«
    Matthias lachte. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich zu neuen Ufern aufbreche, ohne mit meinem Leben im Reinen zu sein, oder? Wenn wir beschließen auszuwandern, dann stehen wir vor Gott und der Welt auch dazu.«
    »Mutter wird uns die Hölle heißmachen«, murmelte Franz zwischen den gespreizten Fingern hindurch.
    »Das wird sie«, stimmte Matthias ihm zu. »Und es wird das letzte Mal sein, dass ein Weib versucht, mich wie einen hirnlosen Nichtsnutz zu behandeln. Das schwöre ich dir.« Wann immer die Rede auf seine Mutter Ludmilla kam, stieg der Zorn in ihm auf, den er seit frühester Jugend zu unterdrücken geübt hatte. Nicht nur ihn und Franz kommandierte sie wie Leibeigene, selbst Hannes, den Hoferben, ließ sie keine eigene Entscheidung fällen und gängelte ihn, wann immer es ihr gefiel, mit schrillem Keifen.
    Möglich, dass sie nach ihres Mannes Tod glaubte, es sei der einzige Weg, die Dinge unter Kontrolle zu halten, wenn sie nur das Zepter schwang. Aber Matthias war es müde, nach Gründen für ihr unausstehliches Wesen zu suchen.
    Wenn sie mit ihren Schimpftiraden nicht weiterkam, verstieg sie sich zu den düstersten Prophezeiungen. Ihre Augen wurden glasig, ihr Blick trieb ins Leere, und sie sprach von der Pest, die über sie kommen würde, oder davon, dass sich die Erde auftun und sie alle verschlingen würde. Das war immer noch das wirkungsvollste Mittel, um Franz und Hannes zu beeindrucken. Die beiden waren sich nie wirklich sicher, ob die Mutter tatsächlich das Zweite Gesicht hatte und ihnen größtes Unheil drohte. Franz jedenfalls hatte schon einige Male zitternd in einer Ecke gekauert, nachdem die Mutter mit grausamen Worten und theatralischen Gesten ein Höllenspektakel abgezogen hatte.
    Für Matthias dagegen gehörten ihre Wahnvorstellungen nur zu den ungezählten Greueln im Elternhaus. Er hatte dieses Leben so satt.
    Vielleicht war seine Mutter der beste Grund, der Heimat den Rücken zu kehren.
    Während er seinen unerquicklichen Gedanken nachhing, bemerkte er die schwülen Blicke, die sein Bruder mit der Schankmagd Agnes tauschte. Sie stand hinter der Theke an der Tür zur Küche und ließ mit mädchenhaftem Hüftschwung den Rock hin und her schwingen, während sie einen Kussmund zog und zu Franz herüberschielte.
    Dessen Miene hellte sich auf, sein Gesicht nahm den Ausdruck lüsterner Verwegenheit an, während er der Magd zuzwinkerte und ihr Zeichen gab, sich zu ihnen zu gesellen.
    Tatsächlich kam sie nun an den Tisch geschlendert, die Arme auf dem Rücken, die Lider gesenkt, die Wangen rosig.
    »Darf ich Euch noch einen Krug bringen, Herr?«, zwitscherte sie wie ein Waldvogel.
    Ehe sie sich versah, hatte Franz sie gepackt und neben sich auf die Bank gezogen. Er nestelte an ihrem Hals herum. »Mich dürstet nach ganz anderem«, flüsterte er ihr zu. Sie kicherte.
    »Trink noch einen, Matthias, und lass es auf meinen Namen anschreiben«, warf Franz seinem Bruder großspurig hin und zog im Aufstehen die Magd mit hoch, die sich zum Schein zierte, wie es von ihr erwartet wurde. »Es wird nicht lange dauern«, zischte Franz grinsend über seine Schulter, als er mit Agnes ins Hinterzimmer des

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