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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Holztisch stellte. Mit dem Daumen wies Henrich links hinter sich. »Mit einem schönen Gruß von dem Herrn da drüben.«
    Matthias und Franz wandten die Köpfe zu einem Mann mit schief sitzender gepuderter Perücke und einem Vogelgesicht. Er zog einen Mundwinkel nach oben und neigte den Kopf zum Gruß, während er seinen Krug hob.
    Franz grinste erfreut und hob seinen Krug ebenfalls. Matthias machte es ihm zögerlich nach.
    »Wer ist das?«, erkundigte er sich bei dem Wirt.
    Henrich zog die Schultern hoch. »Einer von den privaten Werbern. Er trifft sich hier häufiger mit Leuten. Die stecken die Köpfe zusammen und füllen Papiere aus …«
    Matthias runzelte die Stirn. »Kennst du ihn?«, fragte er seinen Bruder.
    Franz ruckte auf seinem Stuhl hin und her. »Nun, wir sind einmal ins Gespräch gekommen, ganz unverfänglich …«
    Der Wirt wandte sich ab und warf einen zornigen Blick über die Schulter auf die beiden Brüder. »Lasst euch bloß nicht auf die Bauernfängerei ein!«, brummte er. »Ich sag’ euch, das führt zu nichts Gutem. Die privaten Werber verdienen sich eine goldene Nase an Hohlköpfen, wie ihr es seid. Was meint ihr, was die für satte Prämien kassieren!«
    »Ich habe gehört, das Anwerben ist sogar unter Strafe gestellt«, meinte Matthias.
    Der Wirt schnaubte. »Einerseits ja. Aber die hohen Herren sind sich wohl nicht einig darüber, ob sie die Leute nun ziehen lassen sollen oder nicht. Bei plausiblen Gründen soll keinem Untertan der Abzug verwehrt werden, heißt es. Doch die Bürgermeister sollen ein Auge darauf haben, dass die Spitzbuben den örtlichen Beamten ihr Vorhaben melden, damit ein genauer Bericht über die Vermögens- und Schuldenverhältnisse vorgelegt wird.«
    »Und du meinst, bei den privaten Werbern läuft das bisweilen an der Obrigkeit vorbei?«, wollte Matthias wissen. Franz war ganz still geworden und sackte immer tiefer auf dem Stuhl zusammen.
    »Darauf verwette ich mein Weib.« Der Wirt lachte dröhnend, bevor er davonstapfte.
    »Pah.« Franz richtete sich auf und langte nach dem frischen Krug. »Wen wundert’s, dass er solche Reden schwingt. Dem Wirt läuft die Kundschaft davon! Der will seine Leute hierbehalten, damit ihm das Fassbier im Keller nicht versauert. Der wird sich noch umschauen …«
    »Oder wir«, erwiderte Matthias und schob den Krug an den Tischrand. »Franz, wenn wir über die Auswanderung nach Russland reden wollen, dann nur auf dem offiziellen Weg. Ich schleiche mich nicht wie ein räudiger Hund davon. Ich werde im Werberbüro vorsprechen und hören, welche Bedingungen gestellt werden und was wir der Gemeinde zu zahlen haben. Du weißt sicher, dass neben dem Ausgleich der Schulden Steuern fällig sind, wenn wir auswandern, oder?«
    Franz schüttelte die Faust. »Von was denn Steuern?«, fauchte er. »Wir haben nichts. Wer will von uns was holen?«
    »Trotzdem. Ich will die Bescheinigung, dass wir rechtmäßig abreisen dürfen. Ich breche nicht zu Beginn eines neuen Lebens Gesetze.«
    »Herrgott, du mit deinen moralischen Bedenken! Da überkommt mich das Würgen.«
    »Hast du Angst vor einer Absage, wenn du deinen Lebenswandel offenlegen musst?«, fragte Matthias geradeheraus.
    Franz erbleichte, so dass die feine Narbe deutlich wie eine Blutader hervortrat. Matthias erinnerte den Bruder nicht gern an dessen mannigfaltigen Fehltritte, aber es erschien ihm die einzige Möglichkeit, ihn von dieser bedingungslosen Begeisterung abzubringen.
    Gab es auch auf dem heimischen Hof keine Möglichkeit, sich hervorzutun, so hatte sich Franz, seit er ins Mannesalter eingetreten war, einen Namen als Weiberheld und Wirtshausraufbold gemacht, der seinesgleichen suchte. Keiner Keilerei ging er aus dem Weg, mancher Stuhl und Krug waren schon in wilden Handgemengen über Köpfen und Rücken zerbrochen. Am Ende hatte sich Franz schon mehrere Male im Kerker wiedergefunden.
    Wie oft er bei Nacht und Nebel über Leitern in die parfümierten Kammern verheirateter Frauen eingedrungen und in Prügeleien mit heimkehrenden Ehemännern geraten war, konnte Matthias nur vermuten. Die Narbe in seinem Gesicht trug Franz als Andenken an den Peitschenhieb eines gehörnten Gatten. Er fand allerdings nicht, dass sie ihn entstellte, sondern dass sie ihm im Gegenteil sogar ein verwegenes Aussehen verlieh, das den Weibern gefiel.
    In jungen Jahren war es Matthias manches Mal gelungen, Fürsprache für seinen hitzköpfigen Bruder einzulegen, aber später hatte es erbarmungslos öffentliche

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