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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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anderen, packte die Hand des Jungen, der inzwischen so groß war wie er, und zog ihn mit einem kräftigen Ruck zu sich, um ihn zu umarmen.
    »Sebastian, wie schön …« Er hielt ihn fest, bis sich der Junge befreite und verlegen auf die Schuhspitzen schaute. Was mochte Klara von ihm denken, wenn er sich wie ein Kind abherzen ließ? »Was treibt dich her?«, fragte Daniel aufgeräumt, doch als Klara und Sebastian beschämte Blicke tauschten und überall hinschauten, nur nicht in sein Gesicht, grinste Daniel. »Ah, ich verstehe. Ich sollte sowieso längst bei Eleonora und Matthias sein.« Er schnupperte. »Wenn mich nicht alles täuscht, köchelt die Abendsuppe bereits im Kessel.«
    Er klopfte Sebastian auf die Schulter, drückte Klara einen Kuss auf die Wange und eilte hinaus.
    Die beiden jungen Leute standen sich gegenüber. Das Licht der Laterne, die Klara auf den Boden gestellt hatte, warf zuckende Schatten an die Stallwände. Die Ponys schnaubten leise in ihren Boxen, die Ziegen trappelten in ihrem Gehege, die Rinder raschelten im Stroh.
    Sebastian räusperte sich. »Was … was hast du mit Daniel beredet?«
    »Nichts Besonderes. Er sah nur Licht im Stall und kam herein. Ich habe auf dich gewartet«, fügte sie leise hinzu.
    Betrübt bemerkte Sebastian, dass sie mit ihm offenbar nicht über die Sehnsucht nach ihrer deutschen Heimat reden wollte. Aber er würde nicht vergessen, was er da soeben erfahren hatte. Niemals. Und er würde Mittel und Wege finden, Klara ihren größten Wunsch zu erfüllen. Wenn das der Weg zu ihrem Herzen war, würde er ihn gehen.
    Da spürte er ihre zarten Finger an seiner gesunden Hand, und als er sie anschaute, bemerkte er den tiefen Ernst in ihrem Blick. Wie schön sie war … Die Nase zierlich und gepunktet, der rosige Mund, der leicht geöffnet war, die Augen groß und irgendwie traurig. War die Sehnsucht nach ihrer Heimat der Grund für ihre Melancholie? Oder trauerte sie immer noch um ihre Freundin Helmine, die sie, wie Sebastian wusste, auf grausame Art verletzt haben musste. Sie sprach nicht darüber, aber aus dem wenigen, was sie erzählt hatte, hörte er heraus, wie nah ihr diese Auseinandersetzung gegangen war. In der Fremde zählten Freunde hundertmal mehr, und einen zu verlieren war ein bisschen wie sterben. Niemand konnte sich das besser vorstellen als Sebastian.
    Klara trat näher an ihn heran, und er fühlte ihren warmen Atem, roch den Duft von Herbstlaub und Rosen in ihren Haaren. Ihm schwindelte, doch einen Wimpernschlag später hatte er sie an sich gezogen. Ihr Gesicht war seinem ganz nah. Er spürte, wie ihre Finger in seiner Hand zitterten. »Wirst du mich jetzt küssen?«, wisperte sie.
    »Wenn ich darf?« Seine Stimme klang krächzend.
    Zur Antwort schloss sie die Augen und hob ihm das Gesicht entgegen.

40. Kapitel
    Die Jahre danach
    W ie ein Steppenfeuer breitete sich im Herbst 1773 in den Wolga-Kolonien und im ganzen südlichen Russland das Gerücht aus, der 1762 angeblich von den Gebrüdern Orlow im Auftrag seiner Frau Katharina ermordete Zar Peter III. sei wieder aufgetaucht und höchst lebendig.
    In Wahrheit aber war es der Donkosak Jemeljan Pugatschow, der zur Revolte gegen die Obrigkeiten aufrief. Den armen Kosaken und den geflüchteten Leibeigenen versprach er die Freiheit und Reichtum. Allen Gutsbesitzern drohte er mit dem Tod.
    Im November belagerten die Aufständischen die Stadt Orenburg, erlitten aber gegen die Regierungstruppen eine Niederlage. Pugatschow gelang es, unterzutauchen und allen Hinterhalten zu entgehen. In den darauffolgenden Monaten wurde er zum meistgesuchten und meistgefürchteten Mann Russlands.
    Auf seinem Zug durch die Städte und Dörfer schlossen sich dem Rebellen immer mehr Männer an, die mit den Verhältnissen im Reich der Zarin unzufrieden waren. Im Juli 1774 stand er mit einer Armee von zwanzigtausend Aufständischen und zwölf Geschützen vor Kasan. Nach der Einnahme der Stadt plante Pugatschow den Angriff auf Moskau, doch dieser schlug fehl.
    Mit dem Marsch der Rebellentruppen wolgaabwärts begann die nächste Etappe des Aufstandes. Tausende von Bauern verstärkten die Aufrührerischen, und im August 1774 standen sie vor Saratow.
    Viele der Verteidiger der Stadt schlugen sich auf die Seite der Rebellen und öffneten ihnen die Tore. Begeistert begrüßte die ärmere Bevölkerung Pugatschow – mehr als einhundert Adelige und Beamte wurden öffentlich hingerichtet.
    Danach nahmen die Rebellen Kurs auf die

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