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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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und Vieh wieder zurück. Fortan nahmen sie an dem Aufstand nur über die spärlich eintreffenden Nachrichten Anteil. Es hieß, dass es Ende August 1774 bei Tschorny Jar an der Wolga zur Entscheidungsschlacht zwischen den Mannen Pugatschows und den Regierungstruppen kam. Dabei wurde der Anführer der Aufständischen geschlagen und geriet wenig später durch Verrat in die Hände seiner Feinde. Im Triumphzug brachten sie den Rebellen nach Moskau.
    Gregor und seine Freunde kehrten nie mehr nach Waidbach zurück. Ob sie bei einer der Schlachten gefallen waren oder ob sie sich in den Weiten des russischen Reiches verstreut hatten, wusste niemand zu sagen.
    Zurück blieb die Erinnerung an eine weitere Heimsuchung, die die Kolonisten mit Wunden an Leib und Seele überstanden hatten – und eine wie versteinert wirkende Helmine, die sich nach dem Fortgang ihres Mannes ganz von der Gemeinschaft zurückzog und kaum ein Wort mit jemandem sprach.
    Seit ihrem hässlichen Streit mit Klara hatte sie einige Male auf ungeschickte Art versucht, die Freundschaft wiederaufleben zu lassen, aber Klara war zu tief verletzt, um nach der Hand, die sie ihr entgegenstreckte, zu greifen.
    Als Klara an einem Sommerabend mit einer Kanne Ziegenmilch und einem Weidenkorb voller Eier zum Krämer eilte, der nicht nur Waren des täglichen Bedarfs aus Saratow verkaufte, sondern auch die Produkte der Kolonisten in Kommission nahm, führte ihr Weg an der Maulbeerplantage vorbei, die einst Marliese angelegt hatte. Die Bäume waren inzwischen fast mannshoch und dicht begrünt. Im Steppenklima schienen sie hervorragend zu gedeihen, aber zum ersten Mal fiel Klara auf, dass sie jemand gewässert und beschnitten haben musste. Anders war die Pracht, die sich weit vor ihr erstreckte, nicht zu erklären.
    Sie verlangsamte den Schritt, als sie am Rand der Plantage jemanden hocken sah. Sie erkannte sie an den silberweißen Flechten, die unter dem Kopftuch hervorschauten: Helmine.
    Die Base kauerte vor einer Holzkiste mit zwei eisernen Griffen und schien ganz in ihre Tätigkeit vertieft zu sein.
    Während Klara auf die Freundin von früher starrte, wurde ihr das Herz schwer. Mit einem Schaudern erinnerte sie sich an die grausamen Worte aus Helmines Mund, aber sie erinnerte sich auch daran, wie freudig Helmine in die Ehe mit Gregor gegangen war, wie viele Hoffnungen sie dareingesetzt hatte, und auf einmal verstand Klara, wie schwer enttäuscht Helmine von ihrem Leben hier an der Wolga sein musste. Der eine Bruder war erschlagen worden, der andere hatte mit Anja eine eigene Familie gegründet, die Mutter war bei einem Angriff der Kirgisen gestorben, der Ehemann hatte sie geschlagen und gedemütigt und sie am Ende verlassen.
    Wie einsam musste Helmine sich fühlen, und nun, da Klara dank ihres Liebsten wusste, wie sehr es das Herz wärmte, wenn man sich gewiss war, zu wem man gehörte, überfiel sie auf einmal Mitleid mit der Base, die da wie ein Häuflein Elend kauerte und in der Kiste herumkramte.
    Klara stellte den Korb und die Kanne an den Straßenrand und trat zu Helmine. »Gott zum Gruße, Helmine.«
    Als diese aufschaute, versuchte Klara, sich ihr Erschrecken nicht anmerken zu lassen. Die Base war wenig älter als zwanzig Jahre, aber ihr Gesicht war von Falten durchzogen und von teigiger Farbe, die Augen wässerig wie geschmolzener Schnee. Als Helmine sie erkannte, verzog sie die Mundwinkel zu einem Lächeln. »Gott zum Gruße, Klara.«
    Unwillkürlich schnupperte Klara, um zu erkennen, ob Helmine das Trinken zur kranken Gewohnheit geworden war und sie erneut mit einem Tobsuchtsanfall rechnen musste. Aber sie roch bloß das frische Grün der Maulbeerblätter und den erdigen Duft des Ackers. Von Helmine ging ein leicht säuerlicher Geruch aus, als hätte sie ein Bad im Zuber nötig, aber die Ausdünstung von Branntwein fehlte.
    Sie stieß die Luft durch die Nase aus, während sie Klara musterte. »Nein, ich habe nichts getrunken«, beantwortete sie die nicht gestellte Frage, und Klara errötete.
    »Ich … ich dachte nicht …«
    Helmine unterbrach sie. »Brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Wäre ja nur zu verständlich, wenn du glaubst, ich bin wie die Mutter zur Trinkerin geworden. Aber nein, Klara. Seit damals … seit du bei mir warst … Da sind mir die Augen aufgegangen.« Beim letzten Satz brach ihre Stimme, und Klara schluckte schwer. Vorsichtig legte sie eine Hand auf Helmines Unterarm, immer damit rechnend, dass sie sie im nächsten Moment

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