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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Wolga-Kolonien.
    Als sich die Nachricht vom Nahen Pugatschows und seiner Gefolgsleute verbreitete, kam Panik bei den Deutschen auf.
    Bernhard Röhrich berief alle Dörfler zu einer Versammlung ein und ordnete an, dass zunächst das Vieh und die Pferde in den nahe gelegenen Forst in Sicherheit gebracht wurden, bevor die Bewohner sich für den Kampf gegen die Rotte rüsteten.
    Die Menschen zitterten und tuschelten, rückten eng aneinander. So viele Überfälle hatten sie bereits erlebt, Freunde und Verwandte hatten ihr Leben gelassen oder waren verschleppt und versklavt worden. Drohte ihnen nun allen der Tod? Es hieß, Pugatschow und seine Mordbande machten keine Gefangenen. Sie raubten und plünderten, was ihnen gefiel, zerstörten und brannten nieder, was ihnen nicht gefiel, und töteten alle, die sich ihnen widersetzten.
    Während Bernhard versuchte, auf dem Dorfplatz das Gemurmel der Leute zu übertönen, trat auf einmal mit trotziger Miene Gregor Schmied vor, das Kinn kämpferisch vorgeschoben. »Warum sollen wir uns diesem Mann widersetzen? Das ist doch genau das, was die ach so große Katharina will: uns im Kampf gegen die Krieger verheizen und alle Gegner des russischen Reiches schwächen. Pugatschow will Gerechtigkeit für alle – ich bin bereit, mich ihm anzuschließen. Woher wollen wir wissen, dass er nicht tatsächlich Zar Peter ist, der dem Mordanschlag entkommen konnte?« Er wandte sich der Menge zu. »Leute, wer folgt mir? Wer reitet mit mir Pugatschow entgegen, um ihm unsere Unterstützung anzubieten? Ihr habt den Ukas gelesen: Jedem Kolonisten, der sich ihm anschließt, werden monatlich zwölf Rubel ausbezahlt. Wir werden frei sein und reisen können, wohin es uns beliebt.«
    Mit seinen Kumpanen hatte er in den vergangenen Jahren den Hass auf die Krone geschürt, sie hatten sich hineingesteigert in ihre Verachtung für alles Russische und sahen nun einen Weg, ihrem Zorn auf dieses Leben Luft zu machen. Die jungen Männer traten ein paar Schritte vor, reckten die Fäuste und jubelten.
    Auch in Anton von Kersens Augen trat bei den aufwieglerischen Worten ein Glitzern. Doch als er die Faust heben wollte, packte ihn Veronica am Arm. »Was tust du?«, zischte sie. »Willst du alles hinwerfen, was wir beide uns hier aufgebaut haben, um dem Traum früherer Jahre hinterherzuhecheln? Willst du mich und alle, die zu unserer Gemeinschaft gehören, verraten für eine zwielichtige Gestalt, die vor keiner Greueltat zurückschreckt? Geh nur, Anton von Kersen, wenn du es für dein Seelenheil brauchst, aber kehr nie mehr, hörst du, niemals mehr wieder zu mir zurück!«
    Der innere Kampf spiegelte sich in von Kersens Miene. Da war sein verlorener Lebenstraum, in Russland zu militärischen Ehren zu kommen, da war die Demütigung, gegen seinen Willen in die Landwirtschaft an der Wolga beordert worden zu sein, da war aber auch die Befriedigung, als Schulmeister die Anerkennung der Dörfler zu genießen und den Knaben und Mädchen das Rechnen und Lesen beizubringen – und da war die wohlige Geborgenheit an Veronicas Busen. Der Zorn und die Verbitterung der Anfangsjahre flackerten ein letztes Mal in ihm auf. Schließlich sackten seine Schultern nach vorn und seine Gesichtszüge wurden weich, als er zu Veronica schaute. »Verzeih«, murmelte er. »Alles kann ich verlieren, ohne daran zugrunde zu gehen – nur nicht dich. Verzeih, dass ich das einen Moment lang vergessen habe!«
    Sie fassten sich an den Händen, die große, schwergewichtige Frau und der kleine Mann, in stiller Einigkeit darüber, dass es sich für das, was sie sich gemeinsam und allen Widrigkeiten zum Trotz aufgebaut hatten, zu kämpfen lohnte.

    Pugatschow fiel mit unfassbarer Grausamkeit über die Kolonien her. Vorsteher wurden erhängt, wenn sie nicht angeben wollten, wohin sie die Pferde getrieben hatten. Auch Sarepta erlitt gewaltigen Schaden. Die Einwohner waren zum Glück zuvor nach Astrachan geflohen, aber die blühende Oase war nach dem Einfall der Rebellen dem Erdboden gleichgemacht.
    Auch wenn Bernhard Röhrich das Dutzend junger Männer verachtete, die sich dem Aufstand anschlossen und Pugatschow die Treue gelobten – letzten Endes war es ihnen zu verdanken, dass Waidbach von der Zerstörung verschont blieb. Gregor und seine Kumpane ritten den Aufständischen entgegen und erklärten sich als kriegsbereite Abordnung der Kolonie, die ihnen die Treue schwor.
    Die Waidbacher schickten in ihrer Kirche Dankesgebete zum Himmel und holten Pferde

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