Weiße Nächte, weites Land
Schoßhündchen. Wenn ich ihn bitte, seine Schwester aus den Geschäften auszuschließen, wird er das bereits am nächsten Tag in die Wege leiten, sofern ich ihm nur meine Gunst erweise. Genau das habe ich vor – ich warte nur noch auf den rechten Zeitpunkt. Wenn ich diese Felicitas erst los bin, liebste Eleonora, dann vermag mich nichts mehr zu halten. Wünschst du mir das, geliebte Schwester? Ja, ich bin sicher, du wünschst mir das, und ich freue mich auf den Tag, an dem ich die Kolonie besuche, um dich mit Gold zu überschütten und allen anderen ins Gesicht zu spucken …
Kein Wort von Klara, keine Nachfrage nach ihrer Tochter … Christina erzählte nur von sich und ihren ach so glanzvollen Taten. Eleonora ließ den Brief sinken und rieb sich über die Stirn. Sie würde ihn genau wie alle anderen Briefe, die sie von Christina bekam, in die Holzschatulle legen, die sie auf dem Dachboden unter einem Stoß alter Kleider aufbewahrte.
»Was betrübt dich, Liebste?« Matthias rückte mit dem Stuhl näher heran, um ihre Hand zu nehmen. »Schlechte Nachrichten von deiner Schwester?«
Eleonora wischte sich über die Augen, wie um einen bösen Traum zu verscheuchen. »Nein, nein, im Gegenteil. Es könnte ihr nicht bessergehen.«
»Dann lies doch, was Mascha schreibt!« Matthias lächelte ihr aufmunternd zu. Eleonora hatte ihm viel von der jungen Russin vorgeschwärmt. Er wusste, dass ihre Briefe sie immer mit besonderer Freude erfüllten.
Mascha schrieb mit ansteckender Begeisterung von ihrem Studium und dass es nicht mehr lange dauern werde, bis sie auf eigenen Füßen stehen konnte. Eleonora las, wie viel ihr die Kunst bedeutete, dass diese ihrem Leben den schönsten Sinn gab, und sie beneidete Mascha fast um diese Besessenheit, die sie alles um sich herum in einem anderen Licht sehen ließ. Ein ums andere Mal lachte Eleonora laut auf über die gutmütigen Scherze, die sich Mascha auf Kosten der eitlen Christina machte. Mascha erzählte, dass sich Christina ihren Platz in der russischen Hofgesellschaft genauso verbissen erkämpfte wie sie sich ein Lehramt an der Petersburger Akademie und ob es denn nicht etwas Wunderbares sei, wenn man ein Ziel habe, und ob Eleonora ihr nicht einmal schreiben wolle, welche Ziele sie im Leben verfolge.
Eleonora schaute nachdenklich zum Fenster. Ziele? Ihre eigenen Wünsche hatte sie niemals so formuliert … Glücklich war sie, seit sie mit dem Mann, den sie liebte, zusammen sein durfte, sie war es, wenn sie die Menschen, die sie liebte, umhegen und umsorgen durfte, wenn sie in ihren Büchern las, wenn sie keinen Hunger leiden mussten und gesund waren. Es beschämte sie auf einmal, dass sie im Vergleich zu Mascha und Christina im Kleinen dachte. Doch als Matthias aufstand und sie mit sich hochzog, um sie zu umarmen, verging das Gefühl und machte einer tiefen Zufriedenheit Platz, die sie bis in jede Pore ausfüllte. Sie legte die Wange an seine Brust.
»Wirst du mich immer lieben, Matthias?«
»Dich und Sophia und Klara und Alexandra. Und unseren ersten Sohn, unseren zweiten Sohn und den dritten noch mehr …«
Sie lachte, als sie zu ihm aufschaute. »Mit dir bin ich am Ziel«, sagte sie.
Er hob die Brauen, aber sie lachte nur noch mehr. »Küss mich einfach, und lass mich nie wieder los!«
Das ließ er sich nicht zweimal sagen.
»Könntest du dir vorstellen, die Kolonie zu verlassen?«, fragte er, als sie sich endlich voneinander lösten. Eleonora sah ihm an, wie viel Überwindung ihn diese Frage kostete, und sie schrak zusammen.
»Aber … Wir haben uns hier alles aufgebaut, Matthias! Wir haben unser eigenes Land. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir mit dem Weizen Handel treiben können … Warum sollten wir das um Himmels willen aufgeben?« Sie musterte ihn mit ineinander verkrampften Händen. Sie hatte schon einmal eine Heimat verlassen – ein zweites Mal würde über ihre Kräfte gehen.
»Wir würden nicht weit wegziehen. Nur nach Saratow«, erwiderte er. »Bis hier ein Handel in Schwung kommt, dauert es mindestens noch ein Jahrzehnt, wenn uns nicht wieder marodierende Wilde dazwischenkommen und alles zerstören. Ich habe das Angebot von einem Seidenfabrikanten in Saratow, als sein Kompagnon ins Geschäft einzusteigen. Er hält große Stücke auf meine Umgangsformen und meint, keiner knüpfe so gekonnt die Kontakte wie ich. Ich hätte ein seltenes Geschick im Umgang mit Kunden«, fuhr Matthias belustigt fort, »und würde mit meiner Herzlichkeit und
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