Weiße Nächte, weites Land
Zuverlässigkeit gewiss Preisforderungen durchsetzen, mit denen andere Händler gegen Mauern rennen würden.« Er sah ihr in die Augen. »Ich habe selbst noch nichts entschieden und keine Absprachen getroffen. Wir haben Zeit, uns das Angebot zu überlegen, aber, Eleonora, uns würde es in Saratow an nichts fehlen …«
Eleonora fühlte leichten Schwindel, während sie ihm zuhörte. »Ich … ich muss mir das überlegen. Das kommt unerwartet. Ich dachte wirklich, wir würden in der Kolonie alt werden …«
Matthias lächelte. »Die Kolonie wird immer unser Zuhause sein. Wir werden zu allen hier die Freundschaft halten, aber nach Saratow zu gehen … das wäre ein Schritt, der auch den Waidbachern Nutzen bringen würde. Ich könnte dort versuchen, Handelskontakte für unsere Freunde herzustellen …«
Eleonora fasste sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. »Das … das ist alles etwas viel für heute. Christinas Zusage, die Briefe, deine Eröffnung … Lass uns nach Weihnachten eine Entscheidung treffen, ja?«
Er nickte und lächelte aufmunternd. »So machen wir es.« Er stand auf, krempelte die Ärmel hoch und rieb sich die Hände. »Jetzt lass uns ein anständiges Weihnachtsessen vorbereiten! Daniel hat doch sein Kommen zugesagt, und der frisst, als gäbe es kein Morgen, wann immer er uns beehrt.«
Eleonora sprang auf. »Er wollte heute schon eintreffen. Und ich habe noch nicht mal angefangen!«
»Na dann, los!« Matthias drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Der Vollmond beleuchtete das nächtliche Dorf und die Rauchfahnen, die über den Dächern aufstiegen. An mehreren Ecken brannten Feuer, die zuverlässig die Wölfe abhielten, aber deren Heulen war dennoch die gewohnte Nachtmusik in Waidbach. Sebastian konnte sich kaum noch daran erinnern, dass es in seiner Kindheit Nächte ohne Wolfsgeheul gegeben hatte. Zu gern würde er mal einen sehen, aus der Entfernung nur, aber die Wölfe waren scheu.
An diesem Abend allerdings dachte er nicht an die Tiere des Waldes, sondern daran, ob es ihm wohl endlich gelingen würde, seine geliebte Klara in die Arme zu schließen.
Genauso wenig wie an Nächte ohne Wolfsgeheul konnte er sich daran erinnern, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der er nicht in Klara verliebt gewesen war. Jede freie Minute verbrachte er mit der jüngsten der Weber-Schwestern, und in der Nacht verfolgte sie ihn in honigsüße Träume.
Er spürte, dass sie ähnlich empfand wie er, obwohl er es manchmal nicht glauben konnte. Er brauchte ja nur auf seine linke Hand zu schauen – so sah kein Mann aus, den eine Frau lieben konnte. Und dennoch … Wie Klara strahlte, wenn er ihr begegnete. Wie sie ihn anschaute, wenn sie meinte, er merke es nicht. Wie sie ihn manchmal neckte, weglief und sich kichernd von ihm fangen ließ … Doch, Sebastian war sich sicher, dass Klara seine Liebe erwiderte. Nun lag es nur an ihm, dass sie sich endlich einmal küssten und sich sagten, was sie füreinander empfanden.
An diesem Abend waren sie bei den Ställen verabredet, die sie tagsüber ausgemistet hatten und wo die Leiber der sechs Ponys die Luft mit Wärme erfüllten. Sie konnten im Stroh hocken und sich necken und lustige Geschichten erzählen, aber diesmal würde es anders sein als sonst. Sebastian fühlte ein Kribbeln im Nacken, und die Kehle wurde ihm eng. Was, wenn er sich doch getäuscht hatte und sie ihn auslachte? Ein Lid zuckte, wie immer, wenn er aufgeregt war.
Aus dem Stall drang das Licht einer Laterne nach draußen. Klara wartete offenbar bereits auf ihn. Er trat näher, wollte die Tür öffnen, doch als er Stimmen von drinnen hörte, verharrte er.
»… hab’ ich der Mutter damals versprochen, die Weberei fortzuführen, und du glaubst nicht, wie weh es getan hat, als es hieß, nein, wir marschieren nach Russland und lassen alles zurück, was die Eltern aufgebaut haben. Ich hatte das Gefühl, mir wird das Herz aus dem Leib gerissen, und ein Teil von mir ist in Hessen geblieben, und …«
»Ja, seine Wurzeln zu verlieren kann sehr schmerzhaft sein. Ich verstehe das, Klara …«
Ein Ruck ging durch Sebastian, als er die zweite Stimme erkannte. Daniel! Kein Halten gab es mehr für ihn, er riss die Tür auf und musste sich zusammennehmen, dem väterlichen Freund nicht wie ein kleiner Junge um den Hals zu fallen.
Er lief ein paar Schritte, blieb stehen, räusperte sich und streckte ihm steif die Hand entgegen. »Meister Daniel …«
Daniel grinste von einem Ohr zum
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