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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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fortstieß. Aber die Base holte nur tief Luft, um ihre Fassung wiederzugewinnen. »Es … es tut mir so leid, dass ich dich als Freundin verloren habe, Klara. Du warst mir von allen die Teuerste.«
    Klara presste die Lippen aufeinander und nickte. »Ja, ich weiß … Was … was tust du hier?« Sie wies auf die Kiste und reckte den Kopf, um einen Blick hineinzuwerfen. Darin befanden sich, zwischen Blättern und Zweigen sorgfältig verpackt, Trauben von gelben und grauen Eiern, die wie Schaumbläschen aussahen, und winzige, wimmelnde Raupen.
    Helmine griff vorsichtig hinein und legte eine Eiertraube und einige Raupen auf die Handfläche. Andächtig betrachtete sie sie. »Das sind Seidenraupen und ihre Eier. Matthias hat mir die Kiste aus Saratow mitgebracht.« Sie stieß ein Lachen aus. »Ich hatte ihn gar nicht darum gebeten, aber als er vor mir stand und sie vor mich stellte, konnte ich sie ihm nicht wieder mitgeben.« Sie schwieg einen Moment und beobachtete das Gewimmel. »Vielleicht halte ich hier mein Glück in den Händen«, fuhr sie schließlich fort. »Weißt du, Klara, sie fressen dreißig Tage lang die Blätter des Maulbeerbaums, dann schließen sie sich in einen Kokon ein. Wenn sie zwei Wochen später wieder herauskommen, hinterlassen sie einen Schatz – das Rohgarn für Seide.«
    Klara schaute nicht weniger andächtig als Helmine auf die zerbrechlichen Eier und die schwärzlichen Raupen. Sie beobachtete, wie Helmine die Hand ausstreckte und die Tiere behutsam auf die Blätter der umliegenden Bäume setzte, wo sie sich hungrig wanden und krümmten.
    »Sie fressen und fressen und werfen zwischendurch immer wieder die zu eng gewordene Haut ab, bis sie am Ende fast durchscheinend weiß sind. Schließlich haben sie das Vielfache ihres Gewichts erreicht, verpuppen sich, und wir brauchen nur zu warten, bis sie wieder schlüpfen …«
    »Das … das ist wie ein Wunder«, flüsterte Klara und strich mit der Kuppe ihres Zeigefingers über den gekrümmten Rücken einer Raupe.
    »Ja, das ist ein Wunder.« Helmine setzte die nächste Raupe auf ein Blatt, die gleich zu fressen begann. »Es war der Traum meiner Mutter.«
    Klara spürte ein Kitzeln im Nacken, während sich Helmine nun ganz ihren wimmelnden Tieren widmete und sie vergessen zu haben schien.
    Sie richtete sich auf, klopfte sich den Staub vom Rock und sah auf Helmine hinab. »Ich wünsche dir von Herzen, dass es dir gelingt, den Traum deiner Mutter zu verwirklichen, Helmine«, sagte sie.
    Helmine lächelte. Diesmal bildeten sich Fältchen um ihre Augen, und ein Glanz lag darin wie ein Sonnenstrahl. »Dank dir, Klara. Das will ich versuchen. Ich bin es Mutter schuldig. Und mir auch.«

41. Kapitel
    Kolonie Waidbach, Herbst 1774
    I n den vergangenen Monaten hatten Sebastian und sein Freund Johannes, der zu den nachgerückten Familien in der Kolonie gehörte und aus der Pfalz stammte, das Revier nach und nach kreisförmig erweitert, das sie bei ihren Ausritten in die Steppe erkundeten. Es gehörte zu den besonderen Freizeitvergnügungen der beiden, auf den Kalmückenponys über das Salzkraut zu galoppieren, den Wind in den Haaren, den Duft von Freiheit in der Nase.
    Sie waren weit an der Wolga entlanggeritten, fast bis nach Saratow, und auf der anderen Seite bis zu den russischen Dörfern und den übrigen Kolonien, wo sie sich wie zwei Abenteurer umschauten.
    Sebastian genoss diesen flüchtigen Rausch der Unabhängigkeit und konnte in diesen Stunden noch besser als früher verstehen, was seinen Freund Daniel bei all seinen Reisen antrieb.
    Vorsteher Röhrich hatte ein paarmal versucht, den Jungen ihre Ausritte zu verbieten oder sie zumindest dazu zu verpflichten, sich in Begleitung auf den Weg zu begeben. Aber Sebastian und Johannes hielten sich nicht daran. Dieses Vergnügen wollten sie sich nicht nehmen lassen, und die beiden Freunde legten keinen Wert darauf, sich einem größeren Pulk anzupassen, bei dem der eine nach links, der andere nach rechts strebte.
    An diesem Abend waren sie wieder in Richtung Saratow unterwegs. Sie durchquerten zunächst ein Wäldchen, ehe sie zwischen ausgedehnten Flächen mit Tabakpflanzen galoppierten. Doch plötzlich zog Sebastian die Zügel.
    »Warte mal, Johannes!«, rief er seinem Gefährten zu, der schon ein Stück vorangeritten war. Der Freund wendete das Pferd. Sebastian wies auf einen verborgenen Pfad, der an den hohen Pflanzen vorbei zurück in den Forst führte. Die Sonne stand tief am Himmel und schickte

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