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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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ihr unter die Nase. »Weißt du, was das ist?«
    Klara nahm die Papiere, blätterte sie durch, dabei klappte ihr Mund auf. »Das … das sind Pässe eines deutschrussischen Paares.«
    Sebastian nickte. »Genau. Er heißt Igor, sie Anna. Klara, möchtest du meine Anna sein, wenn ich dein Igor wäre?« Er feixte.
    Klara lachte nicht. »Ich verstehe nicht. Was meinst du? Was ist das für ein Gewäsch?«
    Sebastian richtete sich auf und legte den Arm um ihre Schultern, die Papiere vor sich auf den Beinen. »Schau, ganz einfach, Liebste. Mit diesen Pässen können wir das Land verlassen, wie du es dir schon immer gewünscht hast. Wir kratzen all unsere Rubel zusammen und investieren sie in teure Kleidung, die uns den Anschein geben wird, ein vornehmes Paar auf Reisen zu sein – Igor und Anna eben. Im Hafen von Petersburg wird uns kein Mensch aufhalten, wenn wir an Bord des nächsten Schiffes gehen, das uns nach Lübeck bringt. Versteht sich doch von selbst, dass Leute von edlem Geblüt, wie wir es dann sind, die Welt sehen möchten, oder?«, fügte er mit gespieltem Hochmut hinzu.
    Klara hörte mit offenem Mund zu. Sebastian stutzte. Freude sah anders aus.
    »Das hältst du für meinen geheimen Wunsch? Zurück nach Hessen zu ziehen?«
    »Ist es das nicht?«, fragte er leise zurück. »Oder willst du es mir nur nicht sagen? Ich habe doch gehört, wie du es Daniel erzählt hast …«
    »Sebastian Mai, ich weiß nicht, was du gehört hast, aber weg von hier will ich gewiss nicht.«
    Sie schauten sich an, und Sebastian mühte sich ab, in ihren Augen zu lesen.
    Führte sie ihn an der Nase herum? Verschloss sie sich vor ihm?
    Klara fuhr fort: »Es stimmt, dass ich am Anfang dagegen war überzusiedeln. Ich war sogar ziemlich verzweifelt und habe vieles versucht, um meine Schwestern zu einem Umdenken zu bewegen. Aber … das hat sich inzwischen geändert«, sagte sie leise. »Ich möchte hier nicht mehr weg. Niemals mehr wieder! Die Arbeit mit den Tieren macht mich glücklich, und du …« Sie räusperte sich. »Wir haben es doch wunderschön hier, Sebastian!« Sie sah ihn wieder an. »Ich möchte hier alt werden. Ich möchte, dass meine Kinder hier aufwachsen.«
    »Mit … mit mir?«, wagte er zu fragen.
    Sie nickte. »Ja, Sebastian, mit dir und unseren Kindern.«
    »Aber … aber woher rührt die Traurigkeit in deinen Augen? Ich dachte wirklich, der Grund dafür sei dein Heimweh.«
    »Ja, manchmal bin ich traurig«, gestand sie und fasste nach seiner Hand, »und manchmal bin ich spröde und stoße dich vor den Kopf, obwohl ich dich … liebe.« Noch einmal hüstelte sie, löste sich von ihm und begann, ihr Mieder aufzuknöpfen.
    »Was tust du?« Seine Kehle wurde eng.
    »Streichle mich, Sebastian, berühre mich. Sei immer sanft und lieb zu mir. Tu mir niemals weh, und tu niemals etwas, was ich nicht selbst will. Versprichst du mir das?«

    »Ich verspreche es«, sagte er feierlich, als spräche er einen Schwur.
    Sie legte die Arme um seinen Hals und zog ihn ins Stroh. »Dann wird auch irgendwann die Traurigkeit verschwinden«, wisperte sie, bevor sich ihre Lippen in einem zarten Kuss trafen.

    »Hopp, hopp, Klara, pack deine Kleider ein, schnür dein Bettzeug zusammen – beeil dich! Das Fuhrwerk ist schon bereit!« Eleonora klatschte in die Hände, um der jüngeren Schwester Beine zu machen, bevor sie fortfuhr, Vasen, Kannen und Gläser in Leinentücher einzuschlagen, um sie gegen Bruch auf der rumpelnden Fahrt im Karren zu schützen. Alle in der Hütte wuselten aufgeregt hin und her.
    Alexandra und Sophia sammelten ihre wenigen Spielsachen und Schulhefte zusammen, Matthias räumte die Pfannen, Töpfe und das Geschirr aus der Küche in Holzkisten, der einjährige Stephan durchquerte auf wackeligen Beinen die Hütte und quäkte dabei. Nur der erst wenige Wochen alte Justus schlummerte seelenruhig, am Daumen nuckelnd, in dem Körbchen, das seine Eltern mit Gurten an einem Deckenbalken befestigt hatten und hin und wieder anschubsten, um ihn durch das Schaukeln ruhig zu halten.
    In Saratow stand das aus Stein erbaute Haus leer geräumt bereit für sie, mitten im Zentrum der Stadt und so nahe an der Wolga, dass sie das Plätschern der Uferwellen von den Schlafkammern aus hören würden. Ein Bad gab es in ihrem neuen Zuhause, einen riesigen Ofen mit Schornstein, und zum Bäcker, zum Fleischer, zum Stellmacher, zum Hafen, zur Schule und zu der Manufaktur, die Matthias als Kompagnon mit leiten würde, waren es nur kurze

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