Weiße Nächte, weites Land
vereinzelte Strahlen durch die dichten Baumkronen. Sebastian beschattete mit einer Hand die Augen. »Siehst du das? Was mag das sein?«
»Kann eine verunglückte Kutsche sein. Da schaut ein gebrochenes Rad aus dem Graben. Los, lass uns nachsehen! Wer zuerst da ist – die Wette gilt!«
Schon preschten die beiden los, lachend, weit vorgebeugt, mit fliegenden Haaren im Wind.
Als sie an der Unglücksstelle ankamen, erkannten sie, dass es sich tatsächlich um das Wrack einer Kutsche handelte, und zwar einer ziemlich edel ausgestatteten mit Brokatvorhängen an den Fenstern und kunstvollen vergoldeten Holzverzierungen am Dach. Das Geschirr für die Pferde hing wie ein abgenagtes Skelett an der Deichsel.
»Schade um das gute Stück«, murmelte Johannes. »Die Kutsche hat gewiss ein paar Hundert Rubel gekostet.«
»Warum hat sie keiner zum Reparieren abgeholt?«, überlegte Sebastian.
»Vielleicht ein Kirgisen-Überfall? Die haben es doch immer nur auf die Pferde abgesehen.«
»Und wo sind die Reisenden?«
Die beiden Jungen sahen sich an. Sebastians Herzschlag beschleunigte sich. Er spürte, während er dem Freund in die Augen schaute, dass dieser das Gleiche dachte wie er.
Johannes sprang als Erster von seinem Pony. »Lass uns nachschauen!«
Sebastians Lid zuckte, aber er tat es dem Freund nach. Was mochte sie in der Kutsche erwarten? Innerlich wappnete er sich und bereitete sich auf einen üblen Anblick vor, falls die Kutsche hier bereits mehrere Tage festhing.
Die Tür klemmte und ließ sich nur mit vereinten Kräften aufziehen. Als sie aufflog, drang ein unfassbarer Gestank nach draußen, der die beiden Freunde taumeln und instinktiv die Hand vor den Mund halten ließ.
Schwer atmend rang Sebastian um Luft, hielt sich die Seiten und beugte den Oberkörper vor. »Hast du das ganze Blut gesehen?«, stieß er hervor.
Johannes nickte mit grimmiger Miene. »Sie sind abgeschlachtet worden wie Vieh.« Er trat wieder näher heran, die Hand an der Nase, und spähte in die Kutsche, um das Innere genauer zu inspizieren. »Adelige offenbar. Jedenfalls ganz feine Leute, der Kleidung nach zu urteilen.«
Sebastian atmete immer noch schwer, während sich hinter seiner Stirn ein Gedanke formte. Schließlich trat er noch einmal vor, setzte einen Fuß auf das Trittbrett der Kutsche, so dass diese gefährlich ins Wanken geriet, aber er behielt das Gleichgewicht und beugte sich hinein. Er griff der männlichen Leiche in die samtene Jacke und öffnete mit flinken Fingern das perlenbestickte Täschchen der Frau. Er hielt dabei den Atem an, und als er wieder wegsprang, knisterten Papiere in seinen Händen.
Johannes starrte ihn an. »Was ist das?«
Sebastian grinste. »Tja, die Kirgisen bereichern sich an Pferden, Schmuck und Gold, aber dies hier, mein Freund«, er wedelte mit den Dokumenten vor Johannes’ Nase, »dies hier ist meine persönliche Eintrittskarte ins Glück. Wollen wir wetten?«
Wenige Tage später ergab sich die Gelegenheit für Sebastian, sein Glück zu erproben.
Seit vielen Monaten wussten Klara und er, dass sie zusammengehörten, aber mehr als hin und wieder einen Kuss gestand sie ihm nicht zu.
Sebastian wagte nicht, mehr zu fordern und ihr näherzukommen, aus Angst, sie würde ihn dann zurückweisen und nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Das würde er nicht ertragen.
Oft hatte er überlegt, woher ihre Zurückhaltung rührte, doch nachdem er sie mit Daniel in der Scheune reden gehört hatte, glaubte er, den Grund für die Traurigkeit in ihren Augen zu kennen.
Klara litt an Heimweh.
Es zog sie mit aller Macht zurück nach Deutschland, und sie wusste, es gab von hier kein Entkommen.
Doch nun hatte er die Pässe dieser Adeligen. Wenn sie es geschickt genug anstellten, würde es kein Problem sein, mit ihnen außer Landes zu kommen und in die Heimat ihrer Mutter zurückzukehren.
In seinen Träumen malte er sich aus, wie sie ihm um den Hals fallen würde vor Glück und wie ihre Augen funkeln würden, wenn sie wieder deutschen Boden betraten. Hand in Hand würden sie in Lübeck von Bord gehen …
Sie lagen zusammen im Stall bei den Pferden, flüsterten und tuschelten, als Sebastian in sein Hemd griff, wo er die Papiere sicher am Körper trug.
»Was würdest du sagen, wenn … wenn ich deinen geheimsten Wunsch kennen würde?«
Klara richtete sich auf, zupfte sich das Stroh aus den Haaren und sah mit gerunzelter Stirn auf Sebastian hinab. Sein Grinsen blieb.
Er hob die Dokumente hoch und hielt sie
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