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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Fußmärsche.
    Eleonora hatte lange mit sich gerungen, ob sie tatsächlich das aufgeben sollten, was sie sich bislang in der Kolonie Waidbach aufgebaut hatten, aber letzten Endes hatte sie keine Wahl. Matthias, der bereits zeitweise in Saratow wohnte, hatte sich innerhalb weniger Monate einen so herausragenden Namen als Seidenhändler gemacht, dass Kunden weit über die Stadtgrenzen hinaus bis nach Moskau bei ihm anfragten und ihn mit Aufträgen bedachten. Er war auf dem besten Weg, seine Familie zu Wohlstand und Reichtum zu bringen, unter Bedingungen, von denen sie in der Kolonie bis an ihr Lebensende nur träumen konnten. Er hatte Eleonora allerdings versprechen müssen, dass dies der letzte Umzug war, den sie bewerkstelligten. In Saratow würden sie leben und sterben.
    Klara richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und reckte das Kinn. Kein Trotz lag in ihrem Blick, aber eine Entschlossenheit, die Eleonora in dieser Klarheit noch nie bei ihr gesehen hatte. »Ich werde nicht mitgehen, Eleonora«, sagte sie.
    Eleonora stellte die Porzellankanne ab, die sie gerade verpacken wollte, und sah der Schwester in die Augen. Die Verärgerung über die abermalige Sturheit der Schwester schwand, als ihr bewusst wurde, dass Klara das Recht hatte, eigene Entscheidungen zu treffen.
    »Ich werde hier mit Sebastian leben«, erklärte sie. »Hier ist meine Heimat, hier bin ich zu Hause.«
    Eleonora trat einen Schritt auf sie zu, umfasste ihre Schultern, und plötzlich erhellte ein Lächeln ihre Züge. »Zu eurer Hochzeit kommen wir alle. Darauf kannst du dich verlassen. Ich freue mich sehr für dich, Klara. Einen Besseren als Sebastian hättest du nicht finden können.«
    Klara schlang die Arme um den Hals der Schwester, und Eleonora fühlte es warm und feucht an ihrem Hals. So entschieden sich Klara auch gab – das Abschiednehmen fiel ihr nicht weniger schwer als ihrer Schwester. »Ich werde euch vermissen, Eleonora.« Sie schniefte.
    »Wir dich auch, Klara.«
    Am späten Nachmittag gab es ein Abschiedsfest in der Kolonie. Viele der alten und neueren Bewohner kamen zur Hütte, in der Eleonora und Matthias mit ihren Kindern wohnten, brachten gefüllte Blini und umarmten die beiden ein letztes Mal. Eleonora versicherte allen, dass sie nicht aus der Welt seien und mindestens einmal im Monat zu Besuch in die Kolonie kämen, aber alle wussten: Es würde nicht mehr dasselbe sein. Das Leben in der Kolonie würde zwar weitergehen, aber zwei von ihnen würden fehlen – zwei hochangesehene und beliebte Dörfler.
    Während alle in Grüppchen vor dem Haus herumstanden, wehmütige Abschiedslieder sangen, tranken und aßen, schlich sich Matthias davon und nahm den Weg Richtung Forst, wo von der Hütte des Viehhirten Rauch aus dem Schornstein stieg. Wie immer war die Tür verriegelt. Matthias klopfte kräftig mit der Faust dagegen. »Franz, ich komme, um mich zu verabschieden«, rief er durch die Türritze.
    »Scher dich zum Teufel!«, kam es dumpf von drinnen.
    Matthias stieß ein Seufzen aus. »Franz … lass uns so nicht auseinandergehen. Hast du dir noch einmal überlegt, ob du uns nicht doch begleiten willst? Das Haus in Saratow ist geräumig genug, ich könnte einen gewitzten Helfer in der Manufaktur brauchen. Was die Fabrik abwirft, reicht für uns beide, Franz.«
    »Spar deinen Atem!«, kam es grollend zurück. »Ich bin auf niemandes Almosen angewiesen.«
    Matthias schwieg ein paar Herzschläge lang. Im Grunde wusste er, dass es vergeblich war, auch nur einen weiteren Satz mit Franz zu wechseln. Er hatte sich hier in seiner Einsiedelei vergraben, lebte seit Jahren völlig abgeschieden von der Dorfgemeinschaft. Manch einer munkelte, er habe den Verstand verloren. Matthias musste an ihre Kindheit denken, an ihren gemeinsamen Traum, in Russland zu Wohlstand zu kommen. Es schmerzte ihn, den Bruder gestrauchelt zu sehen. Aber helfen lassen wollte Franz sich nicht.
    »Leb wohl, Franz!«, sagte er und drehte sich um. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sich der Stoff hinter dem Fenster bewegte, als er mit schweren Schritten Richtung Dorf zurückkehrte.
    Aber er konnte sich auch getäuscht haben.

42. Kapitel
    Sechs Jahre später, Mai 1780, Saratow
    E in Versprechen vermochte Matthias Lorenz seiner Frau gegenüber nicht zu halten: Sie zogen bereits nach zwei Jahren ein weiteres Mal um. Das Steinhaus vertauschten sie gegen eine elegante Stadtwohnung, von der aus sie über die Dächer von Saratow bis hin zur Wolga schauen konnten. Die

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