Weiße Nächte, weites Land
Porzellan nach ihm werfe!«
Daniel stimmte in ihr Lachen ein. Er wusste, dass die Ehe der beiden keinen Grund zur Sorge bot.
»Ich denke, Christina ist nach wie vor mit Haber verheiratet«, sagte Eleonora. »Jedenfalls habe ich nichts Gegenteiliges gehört. Sie schreibt allerdings wenig über ihn. Meist berichtet sie von ihren Geschäften und legt mir manchmal Skizzen der neuesten Kreationen bei. Sie ist unglaublich tüchtig«, fügte sie anerkennend hinzu. »Und es bereitet ihr Freude.«
»Was macht ihr Freude? Das Geldverdienen?« In Daniels Stimme schwang eine Spur von Bitterkeit mit.
Eleonora hob die Schultern. »Ja, das wohl auch. Sie genießt das Leben in vollen Zügen und gönnt sich all den Luxus, auf den wir unser Leben lang verzichten mussten.«
»Und dieser André ist nur Mittel zum Zweck.«
»Ich kann das aus der Entfernung nicht beurteilen, Daniel. Ich weiß nicht, ob sie ihn nicht doch auf ihre Art liebt. Aber … warum fragst du mich und spekulierst? Ganz gewiss würde sich Christina über alle Maßen freuen, dich wiederzusehen. Warum reist du nicht nach Petersburg und besuchst sie?«
Daniel errötete leicht.
»Du hast sie nie vergessen, oder?«, fragte Eleonora, als er nicht antwortete.
»Bin ich so leicht zu durchschauen?« Seine Stimme klang auf einmal belegt. »Weißt du, Eleonora, als ich Christina damals im Lübecker Hafen traf, waren wir uns von der ersten Sekunde an vertraut. Ich hatte seitdem einige Frauen, die mir nahestanden, aber keine, wirklich keine hat mich je berührt wie deine Schwester. Ich frage mich oft, was aus uns geworden wäre, wenn sie nicht bereits einem anderen gehört hätte und wenn sie nicht schwanger gewesen wäre.«
Eleonora lächelte. Christinas Geheimnis hatten sie außer dem Pastor keinem Menschen erzählt. Auch Daniel würde es aus ihrem Mund nicht erfahren. Ob es seine Gefühle für Christina abkühlen würde, wenn er erführe, dass Alexandra gar nicht Matthias’ Kind war? Auf einmal fühlte sich Eleonora unwohl in ihrer Haut. Was zwischen Christina und Daniel passierte, ging sie nichts an – sie hatte nicht das Recht, in die Beziehungen ihrer Schwester einzugreifen, weder im guten noch im schlechten Sinn.
»Fahr zu ihr!«, sagte sie. »Du hast doch erzählt, dass du wieder auf Reisen gehen willst. Hast du je in Petersburg gewohnt? Man sagt, dass es sich nirgendwo in Russland angenehmer leben und lieben ließe als dort. Du könntest Christina treffen und ihr all die Fragen stellen, die dir auf der Seele brennen.«
Daniel schob die Lippen vor und nickte ein paarmal nachdenklich. »Vielleicht hast du recht, Eleonora. Vielleicht muss ich etwas zu Ende bringen … etwas, das leider niemals wirklich einen Anfang genommen hat.«
Wo bewahrte Matthias bloß das Papier auf? Sophia hortete stets einen Vorrat in ihrem Zimmer, um in jeder freien Minute zeichnen zu können, aber an diesem späten Nachmittag, als die Mutter mit Daniel und ihren Brüdern zu einem Spaziergang aufgebrochen war, ging der Stapel zur Neige. Sie war gerade mitten im Rausch, wollte unbedingt ein weiteres Mal versuchen, die Abendstimmung über den Dächern von Saratow einzufangen.
Sie erhob sich von ihrem zierlichen Schreibtisch, der direkt vor dem Fenster stand, eilte in den Salon, schaute sich suchend um und überlegte, von wo Matthias den Nachschub zu holen pflegte.
Die Schubladen unter der Vitrine?
Sie zog die erste auf und kramte vorsichtig darin herum. Seidene Handschuhe und Schals. In der zweiten lagen, sauber gebündelt und beschriftet, die Bilder, die sie von frühester Kindheit an unter Matthias’ Anleitung für die Mutter gemalt hatte und die vor vielen Jahren die Wände in der Waidbacher Hütte geschmückt hatten.
Die dritte Schublade ließ sich nur ruckelnd aufziehen, weil sich das Holz verzogen hatte. Holz auf Holz klapperte darin. Eine Schatulle, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Was mochte ihre Mutter darin aufbewahren? Schmuckstücke? Erinnerungen aus der alten Heimat?
Sophia rang mit sich, während sie auf die mit Ornamenten verzierte Kiste aus dunklem Holz schaute. Durfte sie sie öffnen?
Behutsam hob sie sie mit beiden Händen heraus. Vorne befand sich ein silberfarbener Haken zum Verschließen. Kein Schloss. Also keine Geheimnisse, oder?
Der Deckel quietschte, als sie ihn öffnete. Der Geruch nach Staub und alter Tinte stieg ihr in die Nase. Drinnen befanden sich mehrere Stapel von Briefen, in gestochen scharfer Schrift adressiert an ihre Mutter. Sie
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