Weiße Nächte, weites Land
aufgehört, als er irgendwann mit vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahren seine Mutter an Größe und Kraft übertraf, so dass er ihr, als sie mit wutverzerrtem Gesicht die Hand gegen ihn erhob, mit unnachgiebigem Griff die Rute entwunden und zerbrochen hatte. »Schlag mich nie wieder, Mutter«, hatte er tonlos und blass hervorgepresst.
Das Keifen und Gängeln war geblieben.
Zu dieser Zeit war die Mutter zum ersten Mal in Trance gefallen und hatte mit tönerner Stimme und verdrehten Augen Visionen von ihrem Sohn beschrieben, dem die Hände abfaulten und die Lippen zu einem Geschwür verwuchsen.
Jetzt packte Franz Matthias am Arm. Alle Trunkenheit schien verflogen, plötzlich stand er sehr sicher. »Hörst du das?«, zischte er seinem Bruder zu.
Matthias verhielt den Schritt und lauschte. »Was?«
»Pst … Da! Schon wieder! Es kommt dort aus dem Gebüsch, glaube ich.« Franz verließ den Pfad, drang ins Unterholz des Waldes. Es knackte und knirschte. Über ihren Köpfen stieß eine Elster einen krächzenden Warnschrei aus.
»Was mag das sein?« Matthias folgte ihm, bückte sich unter den tiefhängenden Zweigen hindurch. »Es klingt wie ein … Wimmern. Halt! Warte, Franz!«, flüsterte er. »Vielleicht ist es eine Falle …«
Doch der Bruder war bereits einige Meter voraus und schien nun zu versteinern. Er presste die Fäuste vor den Mund.
Mit zwei Sätzen holte ihn Matthias ein, blickte zwischen zwei Büsche.
Ein Mädchen. Ein Kind noch …
Es wich vor ihnen zurück, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht grau, das Kleid mit Dreck verkrustet und blutverschmiert.
Die Kleine schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hände, als befürchtete sie das Schlimmste von diesen beiden kräftigen Männern.
»Herr im Himmel!«, flüsterte Matthias, während sein Herz überlief vor Mitgefühl mit diesem Kind, das fast irrsinnig vor Angst am ganzen Körper schlotterte. »Wer hat dir das bloß angetan?«
4. Kapitel
S ie wird wieder auftauchen, wenn sie der Hunger treibt.« Christina verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf das Holzbrett mit Brotstücken, das neben der Kanne warmer Milch auf dem Tisch stand. Sie hatte nichts angerührt.
Daraus schloss Eleonora, dass Christina Klaras Verschwinden nicht so leichtnahm, wie sie sich den Anschein gab. Normalerweise aß Christina wie ein Ackerknecht nach einem Tag auf dem Feld. Es musste Arges geschehen, damit es ihr auf den Magen schlug.
Auch Eleonora verspürte nicht den geringsten Appetit, eher noch das Bedürfnis, sich würgend zu erleichtern. Das Mittagsmahl lag in ihrem Magen wie ein Stein.
Nur die kleine Sophia schlang mit gesundem Hunger, löffelte die in die Milchschale gebrockten Brotkrumen sorgfältig heraus und kaute mit offenem Mund und weißen Tropfen am Kinn.
»Was, wenn nicht?«, wandte Eleonora ein. Wieder stieg Übelkeit in ihr hoch. Seit dem Mittag hatten sie rund ums Weber-Haus, in den benachbarten Höfen und schließlich im ganzen Dorf nach Klara gerufen und gesucht – niemand hatte sie gesehen, niemand konnte sich erklären, dass die Achtjährige, wie vom Erdboden verschluckt, verschwinden konnte.
Aber man war sich einig im Dorf: Weit konnte sie nicht sein. Irgendeiner würde sie schon antreffen und dafür sorgen, dass sie heimkehrte.
Dorfschulze Karl – der dickste Mann im Dorf und vor allem aufgrund seiner beeindruckenden Körperfülle vor vielen Jahren in den Stand des Vorstehers erhoben – hatte den beiden Weber-Schwestern kurzatmig versprochen, sich morgen mit einer Suchmannschaft auf den Weg zu begeben, falls Klara bis dahin nicht aufgetaucht sei. Er hatte den beiden hübschen jungen Frauen zugezwinkert. »Aber ich denke nicht, dass es nötig sein wird. Man kennt doch dieses Jungvolk. Nichts als Flausen zwischen den Ohren. Vergesst nicht, ihr eine ordentliche Tracht Prügel zu verpassen, damit sich so etwas nicht wiederholt!«
Das hatte Christina ihm in die Hand versprochen.
Es wurde bereits dunkel über Waidbach, die Kerzen hinter den Fenstern der Häuser brannten und warfen ein warmes Licht in die Nacht hinaus, die um diese Jahreszeit noch empfindlich kalt werden konnte.
Wo würde Klara sie verbringen, wenn sie nicht nach Hause zurückkehrte?, ging es Eleonora bang durch den Sinn, während sie mit einem unbewussten Lächeln auf dem Gesicht ihre mampfende Tochter betrachtete.
»Du hättest nicht so hart mit ihr sein sollen«, sagte sie zu Christina, die vor sich hin brütete. An ihrer gerunzelten Stirn
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