Weiße Nächte, weites Land
Besteck.
Eleonora wusste, wie übel es ihrer Schwester aufstieß, dass sie sich gar nicht von der Begeisterung anstecken ließ.
Zwar hatte sie zugesichert, sie würde mitkommen, aber ob ihre Entscheidung richtig oder falsch war, das würde sich vielleicht erst in einigen Jahren zeigen. Eleonora betete, dass die Ausreise zumindest Sophia den Aufbruch ins Erwachsenenleben erleichtern würde. Allein ihretwegen ließ sie sich auf dieses Wagnis ein.
Für sich selbst erhoffte sie sich … gar nichts. Ob sie hier mehr schlecht als recht lebte oder drüben – wen scherte das? Sie war gerade einundzwanzig Jahre, aber seit der Nachricht, dass ihr geliebter Andreas aus dem Krieg nicht heimkehren würde, hatte sie das Gefühl, ihr Leben sei zu Ende gelebt.
Das Einzige, was ihr immer wieder ein Lächeln ins Gesicht zauberte, war Sophia mit ihrer munteren Art. Was sie davon abhielt, ihrem Andreas dahin zu folgen, wo er jetzt war, war ihr Verantwortungsgefühl: der Tochter gegenüber und der jüngeren Schwester. Sie wusste, dass diese beiden jungen Menschen sie brauchten. Christina war clever und lebenstüchtig, aber »treu sorgend« war das Letzte, was einem einfiel, wenn man von ihr sprach.
Ach, Andreas … Wann immer ihre Gedanken zu dem geliebten Mann glitten, sank ihr Herz. Sie schluckte, doch der Kloß in ihrer Kehle blieb, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Was hätte er zu den Auswanderungsplänen gesagt? Hätte ihn das Russlandfieber gepackt wie die Mehrheit der Menschen in Hessen? Oder wäre seine Heimatverbundenheit stärker? Hätte er sich durch diese harten Zeiten, in denen manch einer sein letztes Hemd verhökerte, um einen Laib Brot auf den Tisch packen zu können, durchgebissen, in der zähen Hoffnung, dass irgendwann alles besser werden würde, und in der Überzeugung, dass man das Vaterland nicht im Stich lassen durfte? Wie sollte es zu einem Aufschwung kommen, wenn die Steuerzahler aus dem Land flohen und nichts als karge Äcker und verwahrloste Hütten zurückließen?
Hätte Andreas sie überzeugt, dass sie hierbleiben und kämpfen mussten?
Eleonora schaute zum Fenster, aber inzwischen war es so dunkel, dass sich nur ihr Gesicht in der blank geputzten Scheibe spiegelte und das schlafende Mädchen in ihrem Schoß.
Andreas und sie hatten sich von Kindesbeinen an gekannt. Fremde hielten sie für Geschwister, wenn sie Seite an Seite den Flachs auf den Wiesen einholten oder den Wäschekorb – jeder einen Henkel haltend – vom Dorfbrunnen zum Weber-Haus trugen.
Sie erinnerte sich an den ersten Kuss, den sie in einem Gebüsch am Dorfweiher nach dem sonntäglichen Gottesdienst getauscht hatten, ehe sie sich ewige Treue versprachen.
Sie hatten ihre Rechnung ohne den Krieg gemacht. Andreas war mit seinen siebzehn Jahren einer der Jüngsten aus ihrem Dorf, die zum Wehrdienst einberufen wurden. Als er sie zum Abschied umschlang, weinte sie an seiner Brust und ahnte, dass es ein Abschied für immer sein würde.
Wie überschäumend war die Freude gewesen, als sie einen Monat später merkte, dass Andreas’ Kind in ihr wuchs. Obwohl sie wusste, wie viel härter das Überleben mit einem Säugling werden würde, dankte sie dem Schicksal. Wann immer sie in Sophias Himmelsaugen schaute, fühlte sie sich Andreas nah.
Wenn sie mit der Tochter an der Hand durchs Dorf spazierte, schwelgte sie in ihren Erinnerungen.
Auf jenem Findling hatten sie gesessen und sich an den Händen gehalten, während sie den Sonnenuntergang beobachteten. Hier am Dorfbrunnen hatte er sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, ihn zu heiraten.
Auf jenem Wiesenstück am Bachufer hatte sie sich ausgemalt, wie viele Kinder sie bekommen und wie diese heranwachsen sollten …
Und dort lag der Hof, auf dem Andreas als einziger Sohn des Bauern Scheid und seiner Frau Maria aufgewachsen war. Der Vater war noch ein Bauer vom alten Schlag gewesen, den die aufgehende Sonne nicht auf dem Hof und die untergehende nicht auf dem Feld getroffen hatte. Trotz der allgemein grassierenden Armut hatten die Scheids ihr Auskommen gehabt und sich nicht lumpen lassen, als es um die Ausrichtung der Hochzeit ging.
Eleonora erinnerte sich, wie der Duft nach frisch geschnittenen Birkenzweigen an ihrem Ehrentag durchs Haus zog, wie Christina mit den anderen jungen Mädchen aus dem Dorf das Vieh mit bunten Schleifen und Quasten geschmückt hatte. Sie erinnerte sich an das aufgeregte Schnattern der Brautjungfern in ihrer Kammer, als sie sie herausputzten,
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