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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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erkannte Eleonora, dass der Groll auf die jüngste Schwester von Stunde zu Stunde wuchs. Sie würde Klara rasch aus der Gefahrenzone bringen müssen, sobald sie heimkam.
    Christina funkelte sie an. »Hätte ich einen singenden Boten zu ihr schicken sollen, um ihr unsere Pläne mitzuteilen? Das Leben ist hart, die Anforderungen sind hart. Das muss selbst eine bockbeinige Zicke wie Klara in den Schädel kriegen. Sie widerspricht doch nur, weil sie alles in Frage stellt, was ich mir überlege! Was weiß sie schon von Russland?«
    »Was weißt du von Russland?«, gab Eleonora scharf zurück. »Was wissen wir überhaupt? Ich verrate dir was, Christina: Ich habe nicht weniger Angst als Klara vor diesen Umwälzungen, aber ich bin ein paar Jahre älter als sie und weiß, dass man manchmal die Zähne zusammenbeißen muss. Das können wir von ihr nicht verlangen. Sie glaubt, sie begeht Verrat an Mutter, wenn wir deren letzten Wunsch nicht erfüllen. Du weißt, wie sehr sie an ihr gehangen hat …«
    »Ihr wurde ja auch alles in den Rachen geworfen. Kein Wunder, dass sie dieser Zeit nachtrauert. Wann musste Klara jemals kämpfen? Wie auf Wolken gebettet hat sie ihre ersten Lebensjahre verbracht. Immer haben wir alle Sorgen und Nöte von ihr ferngehalten. Vom letzten Stück Brot haben wir ihr den größten Teil gegeben, damit sie nur nicht merkt, wie es in Wahrheit um uns bestellt ist – wen erstaunt es, dass sie glaubt, wir bräuchten uns nur ein bisschen mehr anzustrengen, und alles wäre wieder in schönster Ordnung. Doch mit diesen Hirngespinsten muss jetzt Schluss sein. Nichts ist mehr so, wie es war.«
    »Sie ist noch ein Kind, Christina …«
    Christina schnalzte abschätzig mit der Zunge. »Sie wird schnell erwachsen werden müssen. Das schafft sie nur, wenn wir aufhören, sie wie eine Prinzessin zu behandeln. Hier muss jeder sein Bündel tragen, selbst eine Klara. Und was ich von Russland weiß: Wir haben da Verwandte, denen es zumindest so gut geht, dass sie niemals zurückgekehrt sind. So schlimm kann es also nicht sein.«
    Eleonora zuckte die Schultern. »Wie willst du das beurteilen? Ich habe niemals einen Brief von ihnen bekommen. Vielleicht wird ihnen die Ausreise verwehrt und sie würden ihren rechten Arm geben, um wieder in Hessen leben zu dürfen?«
    Christina stieß ein Lachen aus. »Das glaubst du wohl selber nicht. Gewiss sind die da drüben steinreich geworden. Ein Imperium haben sie aufgebaut! Wahrscheinlich beliefern sie mit ihrem Tuchhandel inzwischen sogar den Zarenhof.«
    »Vaters Großeltern?« Eleonora schnaubte. »Du malst dir die Dinge so, wie sie dir gefallen, Christina. Kannst du dir wirklich vorstellen, dass man als Deutsche in Sankt Petersburg oder Moskau zu hohem Ansehen gelangt?«
    Christina beugte sich vor und stützte die Hände auf den Tisch. »Was glaubst du denn! Zu der Zeit, als unsere Urgroßeltern auswanderten, sind massenweise Deutsche in die russischen Städte geholt worden – vor allem Ärzte und Apotheker und solche Berufe. Aber eben auch Kaufleute, die die Wirtschaft ankurbeln sollten. Und jetzt ist es wieder so weit«, schloss sie mit einem satten Grinsen im hübschen Gesicht, so dass sie aussah wie eine Katze, die den Sahnetopf entdeckt hat.
    Eleonora zog ihre Tochter auf den Schoß und wischte ihr den Mund mit der Schürze ab. »Aber die Leute, die sie jetzt rufen, sind weder Heilkundige noch Händler, sondern Bauern. Selbst wenn unsere Vorfahren einen guten Stand in Russland haben sollten, wie du es dir erhoffst – mit uns haben sie gewiss anderes vor.«
    Christina zuckte die Achseln und betrachtete ihre kurzgeschnittenen Fingernägel. »Pläne dürfen sie gerne haben, aber letztlich hängt alles von uns ab. Wenn wir erst einmal unsere Leute in Petersburg gefunden haben, werde ich schon einen Weg wissen, wie wir uns in deren Kielwasser hängen können.«
    »Ich fürchte, du machst es dir zu leicht, Christina«, erwiderte Eleonora und streichelte Sophias Köpfchen, während sich die Kleine in ihren Arm kuschelte und nach der handgroßen Puppe auf dem Tisch griff, die Eleonora ihr aus einem Stück Leinen genäht hatte. Augen, Nase und lächelnder Mund aufgestickt, die Haare aus Wolle geknüpft.
    »Und ich glaube, du machst es dir mal wieder zu schwer«, gab Christina kurz angebunden zurück, sprang auf und begann, den Tisch abzuräumen und das benutzte Geschirr mit einer Wurzelbürste von den Speiseresten zu befreien. Sie klapperte lauter als nötig mit dem

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