Weiße Nächte, weites Land
ja …« Christina hüstelte in die Faust. »Noch.«
Einen Herzschlag lang war es still, bevor Eleonora in leises Lachen ausbrach. Sophia suchte sich eine bequemere Haltung in ihrem Schoß. »Jetzt erzähl mir nicht, dass du in aller Eile noch einen Kerl suchen willst, dem du in der Kirche das Jawort abtrotzen kannst.«
Christina schürzte die Lippen. »Warum nicht? Wenn’s hilft? Ein paar Anträge habe ich schon bekommen … Das heißt, richtige Anträge waren es natürlich nicht, mehr ein sachtes Anklopfen …« Sie blinzelte ihrer Schwester zu und warf den Kopf zurück. »Aber selbstverständlich lasse ich mich nicht von irgendeinem dahergelaufenen Tagelöhner freien. Wenn, dann suche ich mir selbst einen aus.«
Eleonora presste die Lippen aufeinander. »Ich kann das nicht glauben, Christina. So weit willst du gehen, dass du dein Liebesglück dieser Idee opferst? Ist es das wirklich wert?«
»Wer redet denn hier von Opfer?«, fuhr Christina sie an. »Wer weiß, was die Ehe drüben noch zählt. Vielleicht sind dort alle Papiere ungültig, aber hier zumindest bekommen wir keine Schwierigkeiten, wenn wir uns als verehelicht präsentieren können. Selbstverständlich suche ich mir den besten Mann aus, den ich finden kann. Wer weiß, vielleicht wird es tatsächlich Liebe im Lauf der Zeit?« Sie kicherte wie über einen Scherz, aber Eleonora war nicht zum Lachen zumute.
Wie konnte Christina so leichtfertig mit der Liebe umgehen? Wie einfältig war es, sich von vornherein auszumalen, dass die Ehe in Russland möglicherweise gar nicht anerkannt wurde?
»Tu, was du für das Richtige hältst«, erwiderte Eleonora. »Aber bitte … halte mich da raus! Wenn ich mich nicht als Witwe mit Kind anschließen darf, bleibe ich hier.«
Christina zog die Brauen zusammen und trat zu ihrer Schwester. Sie lehnte den Besen gegen den Tisch, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dicht vor sie. Beim Sprechen legte sie die Hände auf ihre Knie, während sie ihr eindringlich in die Augen schaute. »Du hast es nicht begriffen, Eleonora, was? Der Aufbruch nach Russland ist unsere einzige Chance auf ein einigermaßen menschenwürdiges Leben. Hier verkümmern wir und sitzen vielleicht schon im nächsten Winter als Bettlerinnen auf dem Marktplatz in Büdingen. Willst du das? Willst du das für Sophia? Für Klara? Hör endlich auf, dich an die Vergangenheit zu klammern, Eleonora!«
Die Erwähnung der jüngsten Schwester verursachte Eleonora sofort wieder Magendrücken. »Herr im Himmel, wo bleibt Klara nur! Ich bin krank vor Sorge, Christina …« Zitternd sog sie die Luft ein. »Ich bringe Sophia ins Bett. Danach lass uns überlegen, was wir noch tun können, um Klara aufzufinden. Ich mag mir nicht ausmalen, dass sie die Nacht irgendwo da draußen verbringt …«
Während Eleonora das Kind zu Bett trug, blieb Christina am Tisch hocken und rieb sich die Schläfen.
Himmel, warum war die Schwester bloß so kompliziert? Was war dabei, sich von irgendeinem Mannsbild zum Traualtar führen zu lassen, wenn das bedeutete, dass einen die Zarin in ihrem sagenumwobenen Reich mit Kusshand empfing?
Sie beide waren doch schön genug, dass sie nicht den Ersten nehmen mussten, der sich ihnen anbot. Sie konnten sich die besten Männer aussuchen, und die würden vor Glück und Dankbarkeit in die Knie gehen.
Seit das Vermählungsfieber grassierte, trieb Christina ihre Späße mit den jungen Männern, die um sie warben. Mal weckte sie die Hoffnungen des einen, mal schäkerte sie mit dem Zweiten, bevor sie beider Träume platzen ließ, indem sie den Dritten anhimmelte.
Das war doch alles nicht mehr als ein Schabernack. Das alte Spiel zwischen Männern und Frauen. Keine beherrschte es so virtuos wie sie.
Wenn es nach ihr ging, würde sie für ihre spröde Schwester schon einen passenden Mann auftreiben.
Das stille Wesen Eleonoras täuschte über ihre innere Stärke hinweg. Nie erlebte man sie heißblütig oder hitzköpfig, aber sie verstand es, ihren Willen mit einem Flüstern zu verdeutlichen. Man erreichte Eleonora nur über die Vernunft – und über die Liebe zu ihrer Tochter.
Ein heftiges Pochen an der Tür ließ Christina zusammenzucken. Besuch nach der Nachtmahlzeit?
Eine helle Mädchenstimme drang von draußen herein, angstvoll, durchdringend. Klara? Christina sprang auf.
»Bitte, macht auf!« Ein Weinen und Wimmern folgte und wieder lautes Klopfen mit den Fäusten, das das Holz erzittern ließ.
Mit zwei Schritten eilte Christina
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