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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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hastig weiter, als stünde zu befürchten, jemand könnte ihm die Mahlzeit streitig machen. Er mochte nicht angefasst werden.
    »Der Jude Rosenbaum wird den Hof und die Werkstatt übernehmen. Was er uns zahlt, reicht, um ein Maultier und einen Karren zu erstehen, und es bleibt noch genug Geld übrig, das uns die ein oder andere Annehmlichkeit ermöglichen wird.«
    Marliese griff nach der Tischplatte, weil plötzlicher Schwindel sie erfasste. »Du hast schon alles geregelt, Bernhard …«, stellte sie mit tonloser Stimme fest.
    Bernhard nickte. »Selbstverständlich. So, wie ich es versprochen habe. Mitte nächster Woche treffen wir uns in Büdingen auf dem Marktplatz. Von da aus zieht der Treck aus Waidbach los. Bis Ende März sollten wir Lübeck erreicht haben.«
    Mit bebenden Lippen sog Marliese die Luft ein. »Wir werden einen Monat bis nach Lübeck brauchen?«
    »Bis nach Lübeck sind es knapp sechzig Meilen, hat der Werber gesagt. Mit den Greisen und Kindern und dem schweren Fuhrwerk schaffen wir nicht mehr als zwei Meilen täglich, zumal die Wege nach der Schmelze verschlammt sein werden …« Bernhard schluckte. Dann trat ein Leuchten in sein Gesicht, als hätte er sich selbst Mut zugesprochen. »Stellt euch vor, welche Städte wir passieren werden … Kassel, Göttingen, Hannover, Hamburg! Der Werber hat erzählt, dass wir nicht nur vor den Städten lagern werden, sondern uns innerhalb der Stadtmauern nach Quartier umschauen dürfen, sofern wir das Geld dafür ausgeben wollen. Wir werden mehr als genug haben, um es uns gutgehen zu lassen, wenn wir unseren Besitz erst verkauft haben.«
    »Ich … ich würde lieber hierbleiben.« Marlieses Stimme klang heiser, sie räusperte sich und fuhr schnell fort, bevor ihr Bernhard dazwischenreden konnte: »Ich könnte versuchen, als Schankmagd in Büdingen unterzukommen. Bestimmt werden Dienstboten nach der großen Abwanderung gesucht. Ich bin tüchtig. Die Jahre, bis ich gebrechlich werde, kann ich noch gut was wegschuften … Und Alfons … Alfons könnte im Armenhaus unterschlüpfen. Ich würde ihn besuchen, sooft es mir möglich wäre, und …« Selbstverständlich würde es sie in Wahrheit zerreißen, ihren geliebten Sohn allein ziehen zu lassen. Und Helmine … Ja, auch ihr wünschte sie mit ganzer Kraft nur das Beste im Leben. Wenn das in Russland zu finden war, sollten sie aussiedeln, die Kinder. Aber sie selbst? Wie ein Wagen mit Achsenbruch würde sie ihnen anhängen. Hätten sie es nicht tausendmal besser, wenn sie sie nicht mitschleifen mussten?
    »Schluss jetzt!« Bernhard hieb mit der Handkante durch die Luft. »Ich will davon nichts mehr hören, Mutter. Wenn du nicht gehst, gehe ich auch nicht.«
    Helmine schielte zur Decke. »Wenn sie doch unbedingt hierbleiben möchte …«
    »Hör sofort auf damit, Helmine!« Bernhard schlug auf den Tisch, dass alle zusammenzuckten. »Wir sind eine Familie, wir bleiben zusammen. Jetzt, wo Vater nicht mehr da ist, ist das noch wichtiger als zuvor.«
    Alfons hatte von dem Geplänkel offenbar nur knapp die Hälfte mitbekommen, aber dass sein Name fiel, war ihm nicht entgangen. Er sprang auf, lief um den Tisch herum und warf sich Bernhard an den Hals. »Alfons mit, Alfons mit«, brabbelte er.
    Bernhard strich ihm über die zotteligen Haare. »Natürlich kommst du mit, Alfons. Wir lassen dich nicht zurück.«
    Das alte Verlangen nach Schnaps stieg brennend in Marliese empor und drohte sie zu versengen. Ihre Hände begannen zu zittern, aber sie riss sich zusammen. Später, wenn die Kinder nicht zusahen … Sie hatte solch unermessliche Angst. Der Weg nach Lübeck war doch erst der Anfang! Auf einem Schiff würden sie wochenlang übers offene Meer segeln. Unvorstellbar.
    Und schließlich auf russischem Boden … Wer wusste, wohin die Russen sie verschleppen würden …
    Wo in drei Teufels Namen sollte sie bloß den Lebensmut hernehmen? Wie sollte sie verhindern, dass sie ihren Kindern die Kraft abschöpfte, weil sie es ohne deren Hilfe nicht schaffte?
    Eine elende Zwickmühle, in die sie Bernhard da brachte. Bis zu ihrem Todestag würde sie in Bernhards Miene lesen, dass sie ihn um seinen Lebenstraum gebracht hat, wenn er wegen ihr in Waidbach blieb.
    Nein, sie musste mitgehen, so weit sie es schaffte. Wenn sie zwischendurch die Kräfte verließen … Nun, dann würde man sie in einem Loch am Wegesrand irgendwo in der Fremde verbuddeln, weit weg von Johanns Grab, auf dem die Krokusse, die Helmine dort gepflanzt

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