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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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erfuhr – und dann wäre sie hoffentlich meilenweit hinter Kassel auf dem Weg nach Lübeck.
    Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und rollte auf das Brandmal. Mit einer unwilligen Handbewegung wischte Anja sie weg.
    Wer kam für sie als Ehemann in Frage? Keine leichte Aufgabe … Während sich die anderen jungen Frauen im Dorf die Kerle nach Gutdünken auswählen konnten, gab es nicht einen Einzigen, der ihr zugetan war. Sie hatte lange darüber nachgedacht, ob sie vielleicht einen vergaß, einen Verwachsenen, einen Bettelarmen mit krummem Rücken, einen einäugigen Knecht … Doch am Ende war ihr keiner eingefallen, dem sie etwas bedeutet hätte.
    Also ging sie im Geiste alle Männer aus Waidbach durch: Wer brauchte genau wie sie dringend einen Ehepartner, um nach Russland auswandern zu dürfen?
    All die vergangenen Dorffeste lebten in ihrer Erinnerung auf. Die Freude der anderen, ihr eigener Schmerz. Wie die Mägde sich mit fliegenden Röcken auf der Tanzfläche drehten, angefeuert von den jungen Freunden, die sie um die Taille packten und beherzt herumwirbelten.
    Wie sie am Rand stand und zuschaute und sich verzagt fragte, wie es sich wohl anfühlte, so gepackt und herumgewirbelt zu werden. Niemals war sie zum Tanz geholt worden. Die Häme der Knechte verletzte sie weniger als das Mitleid der Alten.
    Bei diesen Gelegenheiten hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt, dass es manch einen gab, der es nicht so genau mit den Weibern nahm. Der jeder hinterherstieg, die einen Rock trug. Einen solchen Mann brauchte sie nun: einen, der sein Herz nicht vergab. Und gleichzeitig einen, der vor den russischen Werbern einen schweren Stand hatte, wenn er sich nicht als ehrenwerter Ehemann präsentierte.
    Anjas Herz klopfte zum Zerspringen, wenn sie an den schweren Gang dachte, zu dem sie sich an diesem Abend durchringen würde. Sie fasste unter ihre Schürze nach dem Lederbeutel, in dem sie die zehn Gulden aufhob, die ihr der Pfandleiher in Büdingen ausgehändigt hatte. Sie hatte dafür die kunstvoll geschmiedete silberne Brosche hingegeben, das einzige Schmuckstück, das ihr die Mutter vererbt hatte. Möglicherweise hätte sie mehr Geld herausschlagen können, wenn sie sich weitere Angebote eingeholt hätte, aber dafür fehlte ihr der Mut. Sie wollte nicht riskieren, es könnte über undurchschaubare Wege ihrem Vater zu Ohren kommen, dass sie das Familienstück in Münzen verwandelte. Der Pfandleiher in Büdingen erweckte einen verschwiegenen, wenn auch nicht besonders redlichen Eindruck. Auch erschienen ihr zehn Gulden eine hinreichende Summe, um ihr Vorhaben zu sichern. Den Lederbeutel würde sie am Abend mitnehmen und als ihre Aussteuer präsentieren: eine Mitgift, die – so hatte sie sich die Worte zurechtgelegt – im Besitz des Ehemannes bleiben sollte, wenn die Scheidung beantragt wurde, sobald sie in Russland Fuß gefasst hatten und jeder für sein eigenes Leben verantwortlich war.
    Das Geld gab ihr die gewisse Sicherheit, dass ihr Auserwählter nicht ablehnen würde, wenn sie ihm vorschlug, zu beiderseitigem Vorteil eine Ehe aus rein praktischen Gründen einzugehen – eine Ehe ohne Rechte und Pflichten, nur auf dem Papier bescheinigt, um den Traum von einem neuen Leben in Russland zu verwirklichen. Kein Herzensverband, sondern eine Zweckgemeinschaft.
    Daran lag dem Knecht Franz Lorenz ganz gewiss genauso viel wie ihr.

6. Kapitel
    D as kann ich doch machen.« Marliese erhob sich vom Tisch und trat an die Feuerstelle, wo ihre Tochter Helmine gehackte Rüben über ein Holzbrett in das brodelnde Wasser strich.
    Helmine musterte ihre Mutter mit einem Seitenblick. »Warum? Ich koche hier seit Jahren. Warum sollte sich das plötzlich ändern, nur weil Vater nicht mehr unter uns ist?«
    »Nicht deswegen …«, erwiderte Marliese schwach und strich sich die Haare aus der Stirn. »Ich dachte nur … Du erledigst ohnehin fast alles im Haushalt, fütterst die Hühner, versorgst die Schweine, putzt die Stube, wäschst … Vier Hände schaffen schneller als zwei.«
    Helmines Blick nahm den verächtlichen Ausdruck an, der Marliese nur zu vertraut war. Er verursachte ihr ein Frösteln im Nacken. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern. »Und das fällt dir jetzt ein«, zischte Helmine. »Mach dir nichts vor, Mutter, dieser Haushalt läuft seit vielen Jahren ohne deine Mithilfe. Du bist nur eine zusätzliche Last.«
    Der letzte Satz schmerzte wie ein Peitschenhieb mitten ins Gesicht, aber Marliese ließ sich

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