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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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nichts anmerken, schluckte bloß und nahm wieder Platz.
    Wann hatte das begonnen mit Helmine und ihr? Wann war die Liebe der Tochter zur Mutter ins Gegenteil gekippt?
    Wehmütig erinnerte sie sich an ihre Freude, als nach den beiden Buben ein strammes Mädchen in die Familie kam.
    Wie hatte sie es geliebt, ihr Röcke und Schürzen aus Lumpenresten zu schneidern und sie mit Knöpfen und Häkelspitzen zu verzieren. Ihre Haare zu kämmen und zu Zöpfen zu flechten, während sich die Tochter auf ihren Schoß kuschelte.
    Bis sie auf wackeligen Beinen begann, die Welt zu erkunden, und sich Tag für Tag und Schritt für Schritt von ihr entfernte.
    Sie hatte sie nicht aufgehalten und sich wieder in ihrem Unglück an der Seite eines unbarmherzigen Ehemannes vergraben. Wenn sie auch nicht viel erreicht hatte – ihre beiden gesunden Kinder waren fähig, sich in der Welt zu behaupten, fanden ihren Weg und gingen ihn erhobenen Hauptes. Allerdings gestand Marliese sich ein, dass dies nicht auf ihre Erziehung zurückzuführen sein konnte. Es musste an der Veranlagung der beiden liegen, ein Gottesgeschenk an Stärke und Kraft und Lebenswillen.
    Marliese verteilte die drei Holzteller, die Helmine abgestellt hatte, und legte die Löffel dazu.
    »Isst Alfons nicht mit?«, fragte sie.
    »Pah, ich weiß nicht, wann er das letzte Mal an diesem Tisch saß. Ich bringe ihm später seine Schüssel.«
    Marliese stierte auf die Flasche Schnaps, die am anderen Ende des Tischs stand.
    Merkwürdig, seit Johanns Tod schwand ihre Gier nach Branntwein.
    Nicht, dass sie nicht bereits am frühen Morgen Alkohol brauchte, aber sie schüttete ihn nicht mehr in den Mengen in sich hinein wie noch vor wenigen Tagen, als Johanns Jähzorn die Stimmung am Röhrich-Hof geprägt hatte.
    Mit weniger Alkohol im Blut war ihr Kopf klarer, ihr Gang gerader, waren ihre Gedanken geordneter. Was sie in dieser Klarheit sah, überraschte sie manchmal, und manchmal erschreckte es sie, weil sie erkannte, dass sie viele Jahre lang in einem dichten Nebel verbracht hatte, in dem ihr das Wohl ihrer Kinder genauso egal war wie ihre eigene Gesundheit und ihre äußere Erscheinung.
    Sie war wie eine lebende Tote in diesem Haus gewandelt. Diese Erkenntnis schmerzte wie eine Klinge in ihren Eingeweiden.
    Wieder glitt ihr Blick zum Schnaps. Dann linste sie zu Helmine, die ihr den Rücken zugedreht hatte. Rasch griff sie nach der Flasche und nahm einen langen Zug. Nicht mehr darüber nachdenken, auf Bernhard warten, wegdösen …
    Als sie irgendwann eine Hand auf ihrer Schulter fühlte, fuhr sie hoch. Es fühlte sich an, als strampele sie sich aus Sumpf und Morast ans Tageslicht. »Iss, Mutter!« Bernhard küsste sie auf die Wange und ließ sich ihr gegenüber nieder. Helmine löffelte bereits mit gesenktem Kopf.
    Der Zwiebelgeruch des Eintopfs verursachte Marliese Übelkeit. Auf der wurmstichigen Tischplatte surrten und liefen ein paar Fliegen umher. Sie kämpfte gegen den Würgereiz und schob die Schale von sich.
    Eine Stimme in ihrem Rücken, die das Schmatzen, Schlürfen und Klappern am Tisch übertönte, ließ sie herumfahren.
    »Vatta aufwackt?« Da stand Alfons in einem fadenscheinigen Linnenhemd, die Beine standen wie falsch eingehängt, die Zunge hing ihm halb aus dem Mund, während er mit den Fingern wedelte.
    Als Helmine aufstand, quietschte der Stuhl auf dem Steinboden. »Komm, leg dich wieder hin, Alfons! Ich bringe dir nachher Suppe.«
    »Lass ihn doch«, erwiderte Marliese. »Wenn er mit uns essen will … Alfons, magst du dich zu uns setzen?«
    Bernhard stand bereits auf und holte eine weitere Schale für den Bruder.
    »Vatta aufwackt?«, wiederholte Alfons. Kindliche Angst schimmerte in seinen kugelrunden, feuchten Augen.
    Helmine verzog den Mund. »Wie mir dieses Gebrabbel auf die Nerven fällt. Und schaut nur, wie er sich schon wieder besudelt hat. Da vergeht einem der Appetit.«
    Marliese erhob sich, holte einen Lappen und wischte dem Jungen über Kinn und Brust, bevor sie ihn an den Platz neben sich führte.
    Er zitterte.
    Bernhard schob ihm die gefüllte Schale hin und sah ihn eindringlich an. »Vater wacht nicht wieder auf, Alfons«, sagte er. »Er kommt nicht wieder. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«
    Ein unsicheres Lächeln zuckte über das Gesicht des Jungen. Er griff zum Löffel und begann gierig zu essen. Marliese neben ihm streichelte ihm über die Wange, diesem bedauernswerten Geschöpf, das sie geboren hatte. Doch Alfons zuckte zurück und aß

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