Weiße Nächte, weites Land
ihr Vater, als gäbe es dieses Brandmal nicht. Er sah sie an und sah es nicht. Ein bewunderndes Lächeln legte sich jedes Mal auf seine Züge, wann immer er ihr ins Gesicht blickte. Manchmal hatte sich Anja bei dem Wunsch ertappt, die Sicht ihres Vaters auf sie und die Welt teilen zu können. Wie einfach wäre es in einem Leben, in dem die Dinge nur so waren, wie sie einem gefielen.
Vor fast fünfzehn Jahren hatte sich ihr Dasein von einer Stunde auf die andere von Grund auf geändert. Sie erinnerte sich an den Tag, als wäre es gestern passiert.
Ihre Mutter lebte damals noch und fiel dem Vater um den Hals, als der von einem Ausritt zum Lazarett heimkehrte mit einem Säckel voller Geld und einer breiten, in Papier eingeschlagenen Speckscheibe. Wie einen Goldschatz hatte er das fette Fleisch mit spitzen Fingern ausgewickelt und es erst der Mutter, dann ihr unter die Nase gehalten. Ein köstlicher Geruch entstieg dem Papier, dass es Anja schwindelte. Seit Wochen hatten sie tagaus, tagein dünnen Rübeneintopf gegessen. Wie delikat würde der Speck im Kessel duften.
Mit ihren acht Jahren zappelte Anja damals neben ihrer Mutter, die das Fleisch zerschnitt, in den Topf gleiten ließ und mit dem Holzlöffel zu rühren begann – ihr Gesicht die gutmütige Miene einer Frau, die wusste, dass sie ihren Lieben an diesem Tag etwas ganz Besonderes vorsetzen konnte.
Anja erinnerte sich noch genau daran, wie ihr das Wasser im Mund zusammengelaufen war, wie sie immer wieder schlucken musste, damit ihr der Speichel nicht übers Kinn lief.
Als die Mutter in den Gemüsegarten eilte, um ein Bündel Frühlingslauch zu schneiden, stellte Anja sich auf die Zehenspitzen und griff nach dem Holzlöffel, um in dem Eintopf zu stochern.
Hm, wie die Fettaugen auf dem Gemüse glänzten, wie köstlich der Speckgeruch durch die Wohnküche zog.
Auf Zehenspitzen balancierend, verlor Anja den Halt, strauchelte und riss im Fallen den Kessel um, in dem der Eintopf blubbernd köchelte. Die begehrte Mahlzeit ergoss sich zischend und dampfend in das offene Feuer. Ein Großteil schwappte Anja auf ihr Gesicht. Sie schrie und schrie, versuchte sich aufzurappeln, aber der Schmerz brachte sie fast um den Verstand. Ihr Gesicht fühlte sich an, als würde es gehäutet werden, ihr Denken setzte aus. Sie konnte nichts anderes, als in den höchsten Tönen in Todesangst zu schreien, bevor es schwarz um sie wurde.
Später erzählten ihre Eltern, dass sie sie kopfüber in den Wassertrog im Hof getaucht hätten, aber die Höllenqual hörte nicht mehr auf. Viele, viele Wochen lang nicht, und als Anja das erste Mal wieder vor dem Spiegel stand, wusste sie, was alle anderen schon ahnten: dass ihr Leben niemals mehr sein würde wie zuvor.
Sie war bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Ihre Mutter starb zwei Jahre später. Eines Morgens lag sie leblos in ihrem Bett – ohne dass sich ihr Tod durch das geringste Anzeichen einer Krankheit oder Erschöpfung angedeutet hätte. Wie schlafend ruhte sie in ihren Kissen, als Anja zu ihr trippelte, um sie zu wecken. Ihr Gesicht sah friedlich aus, das Morgenlicht ließ Sonnenpunkte auf ihren Wangen tanzen, doch als Anja ihre Hand berührte, fühlte sie die Todeskälte, die sich von ihren Fingern bis zu ihrem Herzen fraß.
Ihren Vater hatte sie als sehr gefasst in Erinnerung. Sie hatte ihn nie weinen sehen wegen der Mutter. Am Totenbett hatte er den Arm um die Schultern der Tochter gelegt. »Jetzt bist du die Frau im Haus«, hatte er gesagt.
Seitdem führte sie den Haushalt, so flink und umsichtig, dass ihr stets die Zeit blieb, den Vater bei seiner Arbeit in der Apotheke zu beobachten. Wie er die Salben anrührte, die Kräutertinkturen mischte. Wie er vor sich hin murmelte, welches Kraut gegen welches Leiden gewachsen war. Und wie er die Kunden, die damals noch zahlreich ins Geschäft drängten, bei Blessuren und Brüchen, Schwindel und Durchfall beriet.
Anja glaubte, dass sie von alldem nicht ein Wort vergessen hatte. Nur dass dies niemanden interessierte. Schon gar nicht ihren Vater.
Drüben in Russland würde man zu schätzen wissen, dass sie bereit war, sich mit aller Kraft dem Dienst am kranken Menschen zu verschreiben.
Bedauerlicherweise gab es eine letzte Hürde.
Alleinstehende Frauen nahmen die Werber nicht gern – und wenn doch einer ein Auge zudrückte, gäbe es gewiss unbequeme Nachfragen bei ihrem Vater. Das wollte Anja um jeden Preis verhindern.
Ihr Vater sollte der Letzte sein, der von ihrer Abreise
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