Weiße Nächte, weites Land
gerade noch die Schüssel halten, bevor sie ihr mitsamt dem dampfenden Inhalt aus der Armbeuge glitt. »Beim Gehörnten, was schleichst du hier herum wie eine Höllenkreatur!« Sie stellte die Schüssel ab und bekreuzigte sich mehrmals, bevor sie das geschmiedete Kreuz nahm, das um ihren Hals baumelte, und es küsste.
»Entschuldigt, Mutter Lorenz, ich hatte geklopft, doch ihr habt mich nicht gehört. Da bin ich …«
»Schon recht, Anja.« Matthias lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte ihr aufmunternd zu. »Was führt dich zu uns?«
»Ich …« Anja räusperte sich. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst. Sprich klar und ohne zu zaudern! Du bist keine Bittstellerin. Sie hob das Kinn. »Den Franz würde ich gern sprechen. Ich kann draußen warten, bis ihr die Mahlzeit beendet habt.«
Franz zwirbelte die krausen Haare über den Ohren. Er verzog einen Mundwinkel zu einem angedeuteten Grinsen. »Mich willst du sprechen? Was kann ich für dich tun?«
»Nun, also … Das würde ich dir gern unter vier Augen erklären.« Sie drehte sich um. »Bitte nochmals um Entschuldigung für mein Eindringen, Mutter Lorenz. Aber es ist wichtig. Ich warte draußen im Hof.«
Franz sprang auf und wischte sich den Mund am Ärmel ab. »Na, wenn es wichtig ist … Ich bin ohnehin fertig. Wenn ich in fünf Minuten nicht unversehrt zurück bin, ladet die Büchsen und kommt mich holen«, feixte er in Richtung seiner Brüder.
Hannes kicherte.
»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Anja kühl. »So lange braucht’s nicht, es sei denn, du verstehst selbst nach dem dritten Anlauf nicht, was ich von dir will.«
Nun war es Matthias, der lachte.
»Hört, hört.« Franz zog seine Hose hoch und folgte Anja grinsend nach draußen.
Anja stieg die Stufen in den Hof hinab und suchte sich einen Weg zum Schweinestall. Die beiden Ferkel umrundeten sie grunzend. Zwei zerzauste Hühner flatterten auf und suchten sich einen Platz auf dem Misthaufen. »He, wohin willst du? Was treibst du hier für eine Posse?«, rief Franz ihr hinterher.
»Komm mit!«, bat sie. »Ich will nicht, dass die anderen etwas mitbekommen von dem, was ich dir zu sagen habe.«
Franz fluchte, als er in eine Pfütze trat, und schüttelte sein Hosenbein aus, an dem der Schlamm bis zum Knie klebte. »Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich vom Abendessen wegzuholen, Mädchen«, maulte er.
»Das will ich meinen«, erwiderte Anja und blieb endlich stehen. Sie wartete, bis Franz nachkam. Er stand nun ganz dicht vor ihr und grinste auf sie herab. Sein Blick fiel auf ihr Brandmal und blieb daran haften. Anja sah, dass es ihn Mühe kostete, an seinem Lächeln festzuhalten. Sie kannte diese Reaktion in den Gesichtern der anderen. Sie war ihr vertraut wie ein chronischer Schmerz.
»Also, womit kann ich dich glücklich machen?«
Anja frohlockte. Der Weiberheld Franz erprobte seinen Charme an ihr. Ein gutes Zeichen dafür, dass sie ihn richtig eingeschätzt hatte. Ob sie oder eine andere – dem Franz Lorenz war es einerlei.
»Nun, um Glück geht es nicht«, begann Anja, »eher um einen Handel.«
Franz hob eine Braue. Das Lächeln verblasste. Er trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme über dem Bauch. »Willst du mir eure heruntergekommene Apotheke andrehen? Da such dir mal einen anderen Dummen.«
»Ach …« Anja schnalzte mit der Zunge. »Papperlapapp. Nein, ich spreche von der Ausreise nach Russland.«
Auf einmal schien Franz hellwach zu sein wie ein Fuchs, der eine Gefahr wittert. »Was geht dich meine Umsiedelung an?«
»Nun, ist bei dir alles bereits in trockenen Tüchern?«, fragte Anja und versuchte, den lauernden Tonfall aus ihrer Stimme herauszuhalten. Franz war nicht zu unterschätzen.
»Selbstverständlich. Wer sollte sich da querstellen?«
»Nun …« Anja betrachtete ihre Fingernägel. »Ich kann mir denken, dass die Russen auf einen Krawallmacher wie dich nicht gewartet haben. Dein Strafregister ist ellenlang, und nach allem, was man hört, bist du noch nicht zur Ruhe gekommen.«
»Was geht dich mein Lebenswandel an?«, fuhr er sie an.
Anja wich einen Schritt zurück, als er die Fäuste ballte. Aber sie spürte, dass es nur seine innere Anspannung war, kein Groll gegen sie. Gewiss hatte sie seinen wunden Punkt getroffen.
»Er geht mich nichts an, da gebe ich dir recht, Franz Lorenz«, sagte sie. »Aber ich glaube, dass ich dir helfen kann.«
Franz’ Miene drückte tumbes Unverständnis aus. »Du mir helfen?« Er
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