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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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wiedergewann.
    Nein, es lag nicht an den Strapazen der Reise.
    Vermutet hatte sie es schon länger, aber nun wusste sie es mit Sicherheit.
    Sinnlos, es weiterhin nicht wahrhaben zu wollen.
    In ihr Herz stachen tausend vergiftete Nadeln.
    Sie war schwanger.
    Dass der Vater nicht ihr rechtmäßig angetrauter Ehemann sein konnte, wusste außer Matthias niemand besser als sie.

11. Kapitel
    N un also Lübeck. Das erste Etappenziel. Anja versuchte sich auf ihrem Strohlager in der Baracke hinter dem Holstein-Tor so kommod wie möglich einzurichten. Ihr Bündel verstaute sie am Kopfende. Pässe und Dokumente hatten sie alle dem Kaufmann Christoph Heinrich Schmidt aushändigen müssen, der im Dienste der russischen Regierung den Schiffstransport über die Ostsee organisierte. Dadurch sollte sichergestellt werden, dass niemand auf die Idee kam, mit dem Handgeld zu flüchten. Zusätzlich wurden sie während dieser Wartezeit genau wie während des Fußmarsches streng bewacht.
    Das Lager neben ihr hatte ihr Ehemann Franz bezogen. Während er auf der Suche nach Zerstreuung in der Baracke umherstreifte, rückte sie seine Bettstatt so weit von ihrer eigenen weg, wie es angesichts der gedrängten Enge möglich war.
    Es passte ihr nicht, dass er dicht bei ihr zu schlafen gedachte. Von ihr aus war eine Wahrung des Scheins nicht vonnöten – sie brauchten niemandem das liebende Paar vorzugaukeln, das in Zuneigung und Eintracht zu neuen Ufern aufbrach.
    Die Demütigung, die er ihr bei ihrem Vorschlag mit seinen harten Worten zugefügt hatte, fraß an ihr wie ein tödliches Geschwür. Es gab nichts auf der Welt, womit er ihre Verletzung heilen konnte.
    Anja erinnerte sich, wie er wenige Tage, nachdem er Hohn und Spott wie aus einem Güllefass über sie geschüttet hatte, auf der wackeligen, gegen die Häuserwand gelehnten Leiter stand, um zu ihrer Kammer vorzudringen und an die Läden zu pochen …

    Sie trug bereits ihr Nachthemd, legte sich ein wollenes Tuch um die Schultern und öffnete das Fenster. Schweigend starrte sie ihn an. Wollte er seine Schimpftirade fortsetzen?
    Noch bevor er den Mund öffnete, erkannte sie an seiner zerknirschten Miene, dass er sie kein weiteres Mal beleidigen würde. »Anja, verzeih, dass ich vorspreche …«
    Sie nickte mit verkniffener Miene. Ihr Traum, nach Russland zu ziehen, war nach seiner Zurückweisung in weite Ferne gerückt.
    Die Nächte lag sie wach und wälzte sich von einer Seite auf die andere, grübelte, ob sie nicht ein Mannsbild übersehen hatte, das es sich zu fragen lohnte. Wenn nur diese entsetzliche Angst vor einer erneuten Abfuhr nicht gewesen wäre …
    »Was willst du?«, forderte sie Franz zum Sprechen auf.
    »Nun, äh … ich will auf dein Angebot zurückkommen«, begann er zögernd. »Ich weiß, ich hab’ dir unrecht getan, aber du musst verstehen, es kam überraschend, und …« Er stammelte eine ganze Weile vor sich hin, bis Anja schließlich begriff, dass er es sich tatsächlich anders überlegt hatte.
    In ihr kämpften die unterschiedlichsten Gefühle ob dieser Offenbarung. Einerseits erschien es ihr das Natürlichste, Franz einen kräftigen Stoß zu geben, so dass er mitsamt der Leiter in den dahinter stehenden Kirschbaum krachte und sich das Genick brach. Kurzfristig hätte ihr dies höchste Befriedigung verschafft.
    Andererseits tat sich hier gerade die Möglichkeit auf, ihren Traum doch noch zu verwirklichen. Sie musste nur ihre Verletzung vergessen und ihre Rachegedanken verbannen, um das Geschäft zu besiegeln.
    »Mein Geld behalte ich«, stieß sie hervor. Andere Gründe als finanzielle Not mussten Franz zu ihr getrieben haben.
    »Ja, selbstverständlich.«
    Schließlich nickte sie. Was bedeuteten ihre verwundeten Gefühle gegen die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen?
    In aller Eile schnürte sie ihren Ranzen und schrieb mit zitternden Händen den Abschiedsbrief an ihren Vater. Ja, sie liebte ihren Vater, und ihn zu verlassen tat weh. Aber sie würde den Schmerz aushalten und sich mit der Hoffnung trösten, dass der gesunde Teil seines Verstandes ihren Entschluss begreifen würde.
    An jenem Abend hinterfragte sie nicht, was Franz bewogen haben mochte, seine Meinung zu ändern. Aber vier Wochen unter Weggefährten brachten so manchen Klatsch und Tratsch ans Licht. So blieb ihr nicht verborgen, dass Franz sich von Eleonora Weber einen Korb eingefangen hatte. Kurz vor dem Abmarsch hatte er die Weberin um die Ehe gebeten. Als sie ablehnte, blieb ihm keine

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