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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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erzählen, mit welcher Kraft es ihn von daheim fortgezogen hatte. »Ich werde keine Meere entdecken, solange ich nicht den Mut habe, die Küste aus den Augen zu verlieren, dachte ich mir.« Er zwinkerte ihr zu, und Christina fragte sich, ob er wusste, wie sehr sie seine Worte tief in ihrem Innersten berührten.
    Im Haus seines Onkels hatte er seine Lehrjahre verbracht, um endlich seinem seit der Kindheit bestehenden Drang, sich in der Welt umzuschauen, nachzugeben. Von Lübeck aus beabsichtigte er, nach Hamburg zu fahren, sich von dort nach Amsterdam einzuschiffen und sich beim Westindischen Hause zu melden, um nach Amerika aufzubrechen. Auf diese Art würde ihn das kühne Unterfangen nichts kosten.
    »Aber … inzwischen bin ich ins Schwanken geraten«, schloss er seinen Bericht ab.
    »Aber … Amerika! Wie außerordentlich aufregend das klingt!«, erwiderte Christina. »Welches Land könnte spannender sein für einen Abenteurer?«
    Daniel grinste schelmisch. »Russland?«
    Christina zuckte die Schultern. »Vielleicht … Was hat Euch in Eurem Entschluss ins Wanken gebracht?«
    »Nun, ich hatte gestern einen kurzweiligen Abend in lustiger Gesellschaft.« Er deutete auf eine Herberge, an der sie gerade vorbeigingen. »Dort dürfen Handwerker auf der Wanderschaft drei Tage lang unentgeltlich speisen. Ich danke der gottseligen Jungfrau, die diese Stiftung ins Leben gerufen hat.« Er lächelte Christina an. »Gestern saß ich da über meinem Bier mit vier Gästen. Als ich erzählte, dass ich nach Amerika will, wussten sie die tollsten Geschichten zu erzählen … Einer von ihnen war selbst drüben und versicherte mir, jeder, der nicht mit beträchtlichem Vermögen und mit den besten Empfehlungen nach Amerika komme, gehe einer unvermeidlichen Sklaverei entgegen, in welcher er es kaum besser habe als seine aus Afrika geraubten Brüder. Es klang keineswegs so, als wollte er sich aufspielen und mir meinen Traum ausreden – alles, was er sagte, hatte Hand und Fuß. Zudem erschien er mir sehr menschenfreundlich. Ihr könnt Euch vorstellen, wie sehr das meine Hoffnungen trübte …«
    »Oh, wie bedauerlich. Was wollt Ihr nun tun?«
    »Nun, mir ist es im Grunde einerlei, wo ich meine Zelte aufschlage. Mir liegt daran, neue Länder zu entdecken, fremde Menschen kennenzulernen, meinen Entdeckerdurst zu stillen … Das erklärte ich meiner gestrigen Gesellschaft, woraufhin man einträchtig dazu überging, mich von den Vorzügen Russlands zu überzeugen. Die Kolonien der Deutschen will die große Katharina unter den mildesten Himmelsstrichen ihres weitläufigen Reiches anlegen. Nicht nur, dass sie jedem das Kostgeld auszahlt, sie übergibt auch jedem Kolonisten einhundertfünfzig Rubel, damit er sich damit nach eigenem Gefallen etablieren kann. Ich denke, man geht dort einem gewissen Glücke entgegen, durchstreift auf dem Weg zum Ziel einen nicht kleinen Teil der Welt, lernt Kosaken und Kalmücken kennen und eine Menge anderer unbekannter Völker.«
    Das Staunen stand Christina ins Gesicht geschrieben. »So habe ich unsere Reise gar nicht eingeschätzt …«, gestand sie.
    Daniel betrachtete sie bewundernd. »Wenn nur die Hälfte Eurer Gefährtinnen aus Büdingen halb so schön ist wie Ihr, fällt mir meine Entscheidung, mich den Auswanderern nach Russland anzuschließen, nicht schwer.«
    Christina blieb stehen. »Das wollt Ihr wirklich tun?«
    Er hob die Schultern. »Mit dem größten Vergnügen.«
    Ein Lächeln breitete sich auf Christinas Zügen aus, während sie und Daniel sich in die Augen schauten. Doch plötzlich – wie aus dem Nichts heraus – erfasste sie heftiger Schwindel. Ihre Knie gaben nach, hinter ihrer Stirn flimmerten Leuchtpunkte im dunklen Nebel. Einen Augenblick später fühlte sie sich aufgefangen von Daniels kräftigen Armen.
    Kurzerhand hob er sie hoch und bettete sie auf eine Holzbank, die am Ufer stand. »Teuerste, um Himmels willen …«
    Christina hörte, wie besorgt er war, fühlte sich aber nicht fähig zu antworten, stöhnte nur leise und wartete, dass die Übelkeit nachließ, die in ihrem Leib gärte. Sie öffnete leicht den Mund und atmete schneller, während sich ihr Brustkorb hob und senkte.
    »Gewiss hat Euch die lange Wanderung mehr zugesetzt, als Ihr Euch eingestehen wollt«, murmelte Daniel, während er ihr mit einem Tuch Luft zufächelte.
    Christina presste beide Hände auf den Bauch und schwieg, während sich der Nebel allmählich lichtete und sie ihre Fassung

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