Weiße Nächte, weites Land
hatten diese inzwischen verkauft – allerdings zu erbärmlichen Konditionen, denn die Lübecker wussten, dass die Auswanderer die Tiere und Karren loswerden mussten, egal zu welchem Preis. Das Weggeld der russischen Regierung, in Lübeck in Schillingen ausbezahlt, entschädigte die Reisenden und besänftigte ihre Wut auf die schlitzohrigen Händler.
»Ihr habt großes Glück«, erklärte ihnen von Kersen mit seinem nasalen Akzent. »Manch eine Gruppe hat hier schon sechs Wochen und länger ausgeharrt, bevor das Schiff bereit war und der Wind günstig stand.«
Aus der Gruppe der Aussiedler löste sich Marliese Röhrich. Sie trat auf von Kersen zu und packte ihn mit beiden Händen am Arm. »Wir können noch nicht abreisen!«, stieß sie heiser hervor. In ihren Augen lag die blanke Angst.
Von Kersen schüttelte sie ab und strich sich über den Jackenärmel, als hätte sie ihn beschmutzt.
»Das bestimmst du nicht«, schnauzte er sie von oben herab an.
»Ich bitte Euch! Ich müsst das Schiff aufhalten! Mein Sohn … meine Söhne fehlen noch!«
»Na, die werden sich bei den Hafendirnen abstrampeln.« Von Kersen lachte gackernd. »Ihr Pech, wenn sie nicht genug kriegen.«
Marlieses Blick nahm einen flehenden Ausdruck an, während die Umstehenden empört zischelten. »So ist es nicht, Herr Vorsteher!«, sagte sie. Bei der ehrerbietigen Anrede straffte von Kersen mit einem zufriedenen Lächeln die Schultern. »Mein jüngerer Sohn ist … nicht so helle, und er ist verschwunden seit vorgestern. Wie von der Erde verschluckt. Mein älterer Sohn sucht nach ihm.«
»Die haben wohl beide die Weisheit mit Löffeln gefressen. Alle wussten, dass es jederzeit losgehen kann. Wer sich nicht zur rechten Zeit am rechten Ort befindet, bleibt hier. Basta.« Von Kersen stierte in die Menge. »Zur Mittagsstunde haltet euch am Pier bereit!« Damit drehte er sich um und stiefelte mit durchgedrücktem Kreuz und tockendem Stock in Richtung Hafen.
Marliese verbarg das Gesicht in den Händen. »Was soll ich bloß tun, was soll ich bloß tun«, murmelte sie durch die gespreizten Finger.
Eleonora löste sich aus der Gruppe. »Bernhard wird schon noch rechtzeitig auftauchen«, versuchte sie die Tante zu trösten.
»Und wenn er Alfons nicht gefunden hat? Ohne zu wissen, was aus ihm geworden ist, steigt Bernhard nicht aufs Schiff, niemals!«
Eleonora biss sich auf die Lippen. »Wenn es sein soll, kommt er eben nach. Es gehen immer wieder Schiffe von hier nach Sankt Petersburg. Er braucht sich nur dem nächsten Trupp anzuschließen. Vielleicht kannst du ihm eine Nachricht dalassen …«
Marliese brach in lautes Geheul aus, rang die Hände und reckte sie gen Himmel. »Wusste ich es doch, dass diese Reise ins Unglück führt!«
Matthias trat vor. »Wenn du willst, Marliese, rede ich noch einmal mit von Kersen. Was für ein aufgeblasener Gockel …«
Marliese starrte den Knecht mit tränennassen Augen an. »Wenn du das tun würdest, Matthias … Aber – was soll er ausrichten? Er tut zwar so, als würde er über alles bestimmen, aber er kann den Abtransport doch nicht aufhalten.«
Matthias presste die Lippen aufeinander und nickte. »Wahrscheinlich hast du recht. Am besten gehe ich gleich zu Schmidt ins Kontor.«
Dieser sture Hund! Helmine war außer sich vor Zorn auf ihren älteren Bruder. Damit hatte sie nicht gerechnet, dass er Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um Alfons aufzuspüren. Sosehr es ihr zupasskam, Alfons los zu sein, so sicher wusste sie, dass sie ohne Bernhard verloren waren. Was, wenn er sie in Russland nicht wiederfand? Was, wenn er sich nicht mit dem nächsten Trupp einschiffen durfte und hierbleiben musste?
Sie standen auf dem Kopfsteinpflaster am Pier und warteten darauf, dass nacheinander die Ruderboote anlegten, die bis zu dreißig Leute aufnehmen konnten und sie zu dem hochseetauglichen Schiff bringen würden. Das Gepäck wurde gesondert befördert und sollte sich bereits an Bord befinden.
Immer dünner wurde die Menschenmenge am Pier, während die Passagiere nacheinander in die Boote stiegen. Helmine und Marliese hielten sich ganz am Ende auf, sahen sich immer wieder um. Vielleicht schaffte Bernhard es noch rechtzeitig … Helmine schickte ein Gebet zum Himmel.
Wenigstens hatte Klara dichtgehalten. Die jüngere Base hatte ohnehin kaum ein Wort gesprochen, seit Helmine den Bruder ins Boot gesetzt und seinem Schicksal überlassen hatte. Sie war blass wie eine Leiche und warf Helmine verstohlene
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