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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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ohnehin gleichgültig.
    Sie staksten zwischen den Lagerstätten der anderen Barackenbewohner hindurch.
    Hier herrschte ein ständiger Lärm. In der einen Ecke wurde gesungen, in der anderen geflucht und gestritten. Kinder kreischten, Alte keiften, eine Gruppe von Knechten ließ grölend eine Schnapsflasche kreisen. Der Geruch nach altem Schweiß und Urin, nach menschlichen Ausdünstungen und auf kleinen Feuerstellen zubereiteten Rübensuppen verband sich zu einem unerträglichen Gemisch, das man nur mit Widerwillen einatmete.
    Endlich erreichten sie den Ausgang. Durch das Tor strömte die frische, salzige Küstenluft der Hafenstadt.
    Die Waidbacher hatten sich in einem Pulk versammelt, Franz und Anja stellten sich dazu.
    Vor der Gruppe baute sich ein schmächtiger Mann auf, die Brust nach vorn gereckt, den Hals gestreckt, als wollte er größer erscheinen. Er trug ein ehemals weißes Hemd mit zerfleddertem Spitzenkragen, darüber die löchrige und an vielen Stellen geflickte Uniformjacke eines Offiziers. Seine Füße steckten in speckigen Stiefeln, am linken fehlte die Zierschnalle.
    »Mein Name ist Anton von Kersen. Ich werde bis zur Ankunft in Sankt Petersburg euer Vorsteher sein. Von mir bekommt ihr das Geld und den Proviant. Dann allerdings werden sich unsere Wege trennen. Ich gedenke, der russischen Zarin als Offizier zu dienen.«
    Ein Raunen ging durch die versammelten Waidbacher. Was für ein beachtlicher Erfolg für einen offenbar verarmten Adeligen, in die Dienste der großen Katharina zu treten!
    Von Kersen pochte mit einem von einem silbernen Knauf gekrönten Stock auf den Boden. Er wies mit dem Kinn auf einen Tisch, den er aufgestellt hatte. »Bildet nun eine Reihe und holt euch das Geld für die nächsten beiden Wochen ab!«
    Das ließen sich die Waidbacher nicht zweimal sagen. Sie drängelten und schubsten, bis endlich eine ordentliche Aufreihung entstand.
    Alle wandten den Kopf, als vom Hafen her mit wehenden Röcken Marliese Röhrich angestolpert kam. Ihre Wangen waren fleckig rot, sie schnaufte vom anstrengenden Laufen und stützte eine Hand in die Seite, als sie endlich ihren Sohn Bernhard erreichte. Anja beobachtete sie vom Ende der Schlange aus. Marliese stand nicht mehr sicher, und als sie sprach, hörte man deutlich, dass sie wieder einmal dem Branntwein zu sehr zugesprochen hatte.
    »Bernhard … ich … Alfons ist weg«, stieß Marliese hervor.
    »Was heißt das? Wie kann er weg sein? Ihr seid doch gemeinsam zum Hafen gegangen?« Der Flickschuster trat aus der Reihe, legte den Arm um die Schultern der Mutter.
    Sofort schossen Marliese Tränen in die Augen, während sie um Worte rang. »Ich … ich war nur kurz …«
    Bernhard unterbrach sie. »Wo hast du ihn zuletzt gesehen?«, fragte er in scharfem Tonfall.
    »Ich … ich zeig’s dir«, versprach Marliese und ließ sich von Bernhard zurück in Richtung Hafen führen.
    Anja schaute ihnen nach. Was für eine merkwürdige Familie. Die stets betrunkene Mutter, der schwachsinnige Sohn, die undurchschaubare Helmine … zum Glück hatten sie Bernhard. Auf ihn war Verlass. Er würde seine Leute bis zum Ziel in Russland durchbringen.
    »Bernhard, wenn du magst, nehme ich das Geld für euch entgegen«, rief sie ihm hinterher.
    Der Flickschuster drehte sich um, lächelte ihr zu und nickte.
    Anja erwiderte sein Lächeln zaghaft.
    Franz zupfte an ihrem Ärmel, da sich die Schlange nach vorn bewegte. »Ob dir das überhaupt ausgezahlt wird? Kann ja jeder behaupten, er nehme es zu treuen Händen.« Seine Miene verfinsterte sich.
    Anja bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. »Es gibt genug Leute, die die Absprache bezeugen können.«
    »Und wie du ihn angelächelt hast. Für mich hast du nie eine Freundlichkeit«, sagte er vorwurfsvoll.
    Anja stutzte und lachte höhnisch auf. »Seit wann liegt dir an meinem Lächeln, Franz Lorenz? Darauf kannst du warten, bis du schwarz bist.«
    »Schweig, Weib!«, zischte er, als die Leute vor und hinter ihnen gafften.
    »Du hast mir gar nichts zu befehlen!«, fuhr sie in an. »Vergiss das nie, Franz: Keine Rechte, keine Pflichten. So lautet die Vereinbarung.« Sie drängte sich vor ihn und wandte ihm den Rücken zu.

12. Kapitel
    S chon zwei Tage später brachte Vorsteher Anton von Kersen den Waidbachern die frohe Kunde, dass sie sich zum Absegeln bereithalten sollten.
    Jubel brach unter den Aussiedlern aus. Alle packten ihre Habseligkeiten ein. Diejenigen, die mit Fuhrwerken und Maultieren gekommen waren,

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