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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Zeit, nach einer Zweitbesten Ausschau zu halten. Viele junge Frauen und Männer hatten sich inzwischen in der Büdinger Marienkirche das Jawort gegeben, und Franz hatte vom russischen Kommissariat die Auflage bekommen, schnellstmöglich eine Braut zu präsentieren, wenn er beweisen wollte, dass er seinen liederlichen Lebensstil abgelegt hatte. Ohne Eheweib hätte er die Ausreisepapiere nicht erhalten. Also hatte er in letzter Minute den schweren Gang zu Anja angetreten …
    Zu ihrer Überraschung wich Franz während des gesamten Fußmarsches durch die Wälder und Wiesen, entlang der Flussufer und durch die Dörfer kaum von ihrer Seite. Genau wie sie hatte er lediglich ein Bündel geschultert, und auch er gedachte, sich auf Kosten der Zarin am Ziel mit allem Lebensnotwendigen einzudecken.
    Zu Beginn plapperte Franz lebhaft vor sich hin, lenkte hier ihre Aufmerksamkeit auf einen besonders schön gewachsenen, in Blüte stehenden Baum, zeigte dort auf ein Rudel Rehe, die sich ins Unterholz flüchteten, als der Treck sich näherte.
    Später begann er Geschichten über die Mitreisenden zu erzählen, witzige Anekdoten, die Anja zum Lachen bringen sollten, bei denen sie aber keine Miene verzog. Er erzählte von seiner Kindheit, von seiner verrückten Mutter und mit welchen Flüchen sie ihn und Matthias belegt hatte, nachdem sie erfahren hatte, dass sie alle Brücken abbrechen würden. Anja reagierte kaum mal mit einem Brummen oder Nicken.
    Manchmal beschleunigte sie den Schritt, um ihn abzuschütteln, oder fiel gar in einen gemütlichen Trott, aber Franz passte sich ihrer Geschwindigkeit an wie ein ergebener Hund.
    Irgendwann war ihr der Kragen geplatzt. »Was soll das, Franz? Halt endlich dein Maul! Unsere Abmachung besagt, dass wir lediglich auf dem Papier ein Ehepaar sind. Ich bin noch nicht einmal eine Freundin für dich. Ich kann dich nicht ausstehen, und deine Geschichten kratzen mich nicht.«
    Ungerührt hatte er die Schultern gezuckt. »Du bist meine Frau«, sagte er, als erklärte das alles.
    »Hast du mir nicht an jenem Nachmittag auf eurem Hof erklärt, du würdest dich in Grund und Boden schämen mit einer wie mir an deiner Seite?«, fuhr sie ihn an.
    »Ich hab’ dir gesagt, dass es mir leidtut. Ich habe das nicht so gemeint. Ich war da eben noch … verliebt in die Weberin. Da redet man solchen Unfug.«
    Schweigend stapfte Anja weiter. Sie glaubte ihm kein Wort und wartete auf die nächste Gelegenheit, ihn loszuwerden. Spätestens in der Nähe von Moskau, wenn sie sich von den anderen absetzen würde.
    Wenn sie rasteten, gelang es ihr manchmal, sich von Franz zu entfernen. Dann blickte sie sich suchend nach Bernhard Röhrich um, der meist an der Spitze des Trupps marschierte und den besten Kontakt zu den Offizieren hielt, die den Treck begleiteten.
    Der Flickschuster entwickelte sich zum Verbindungsmann zwischen den Aussiedlern und den Vertretern der russischen Obrigkeit. Er war derjenige, der eine Rast einforderte, wenn nach stundenlangem Marsch durch Regen und Sturm, durch Matsch und Morast das Klagen und Seufzen kein Ende nehmen wollte. Er verhalf denjenigen, die dringend eine ruhige Nacht verbringen mussten, um neue Kräfte zu sammeln, zu Privatquartieren in den Städten, die sie passierten. Mit aller Kraft forderte er die Aufstockung des Proviants ein, wenn sie an einem Markt vorbeikamen und die Offiziere zur raschen Weiterreise drängelten. Und wie geschickt er abgewiegelt hatte, als die grausamen Gerüchte von der Stigmatisierung der Kolonisten kursierten und allen den Kopf verdrehten …

    »Komm, Weib, wir sollen uns alle vor der Baracke versammeln. Anordnung von Schmidt.« Franz riss Anja aus ihren Gedanken und baute sich vor ihr auf. Sie lag seitlich zusammengerollt, beide Hände unter der Schläfe.
    Sie richtete sich auf, strich ihren Rock glatt und warf sich das Schultertuch über. »Worum geht’s?«
    »Ich glaube, wir bekommen einen Vorsteher«, erwiderte Franz.
    Anja hob überrascht die Brauen. »Wieso denn bloß? Die Führung hat doch bislang der Bernhard übernommen. Er schlägt sich tadellos.«
    Franz runzelte die Stirn und stapfte voran. »Hier kann sich nicht jeder selbst den Posten aussuchen, der ihm gerade behagt«, erwiderte er. »Wichtigtuer wie den Flickschuster muss man rechtzeitig in ihre Schranken verweisen.«
    Anja schwieg. Sie sah Bernhards Rolle anders, konnte sich keinen besseren Anführer vorstellen, doch was nutzte es, dies mit Franz zu disputieren? Seine Meinung war ihr

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