Weiße Nächte, weites Land
du doch. Schau, da vorne hocken die Röhrichs, da ist die Anja mit dem Franz, daneben die Veronica mit ihrem Neugeborenen. Willst du fragen, ob du Frieda mal halten darfst? Schau doch, wie niedlich sie ist …« Eleonora gab sich alle Mühe, die Schwester auf angenehmere Gedanken zu bringen.
Klara stierte zu Veronica und ihrem Mann Adam, der den Säugling nicht aus den Augen ließ. Er erinnerte Klara an einen zum Sprung bereiten Wolf, der sein Jungtier beschützt. Links von ihnen hockte Sebastian, der ebenfalls zu den Mais gehörte und genauso alt war wie Klara. Er schnitzte mit mürrischem Gesicht an einem Stück Holz, das er mit seiner von Geburt an verkrüppelten linken Hand hielt. »Die gibt die Kleine doch nicht ab. Sie hat sie auf dem ganzen Marsch nach Lübeck nur im Wechsel mit ihrem Mann getragen. Die hütet ihr Kind wie einen Augapfel.«
»Stimmt. Die beiden vergöttern sie.« Eleonora lächelte. »Besser, als wenn sie sie vernachlässigen würden, oder?«
Klara zuckte die Schultern. »Sie hätten sie zu Sophia in den Karren legen können … Schau nur, da stillt sie sie schon wieder.«
Veronica Mai hatte ihr Schultertuch über die linke Seite und das Kind gelegt und wiegte Frieda im Arm, während die Kleine an ihrer Brust trank.
»Sollte die nicht Brot und Suppe bekommen?«, fragte Klara.
»Sieht nicht verhungert aus, die Frieda. Offenbar ist Veronicas Milch fett genug«, erwiderte Eleonora.
»Manchmal weiß man gar nicht, ob eine Mutter tatsächlich die Mutter ist«, murmelte Klara.
»Also, dass Veronica die Frieda geboren hat, das kann halb Waidbach bezeugen.«
Klara winkte ab. »Ach, die meine ich doch nicht. Helmine hat gesagt, ihre Mutter ist gar nicht ihre Mutter.«
»Ich war zwar nicht viel älter, als du jetzt bist«, sagte Eleonora, »aber daran, dass Mutter Marliese Helmine geboren hat, kann ich mich gut erinnern. Sie war stolz, weil sie sich nach den beiden Buben ein Mädchen gewünscht hat. Sie hat Helmine überall im Dorf herumgezeigt.«
Klara zog die Stirn kraus. »Aber Helmine sagt, sie ist nicht ihre Mutter.«
»Von dem, was Helmine dir erzählt, Klara, solltest du mal gleich die Hälfte vergessen. Und die andere Hälfte solltest du mit gesundem Misstrauen bewerten.«
Klara schob die Unterlippe vor.
Irgendwann würde sie ein ernstes Wort mit Klara reden, nahm sich Eleonora vor. Helmine war nicht der rechte Umgang. Das Mädchen war hinterhältig und, wenn nicht zur Lügnerin geboren, zumindest mit einer ausgeprägten Einbildungskraft gesegnet.
Klara richtete sich auf. »Wann fahren wir endlich ab?« Sie blickte zu Matthias Lorenz.
Der wies zu den Luken im Verdeck. »Geh mal dorthin, Klara, von da aus kannst du sehen, was die Matrosen an Deck treiben.«
Aber da begann das Schiff schon zu schaukeln, der Anker war gehoben, die Segel gesetzt. Gemächlich setzte es sich in Bewegung. Klara ließ sich schnell wieder auf ihr Lager plumpsen, bevor sie den Halt auf den Beinen verlor. Sie lachte. »Es geht los!«
Mehrere Männer und Frauen um sie herum, die sich nicht rechtzeitig gesetzt hatten, fielen übereinander. Manche schrieen, andere fluchten, viele beteten, während es hinaus auf die hohe See ging. Die Katholiken begannen, den Rosenkranz abzubeten und die Heiligen anzurufen; die Protestanten begnügten sich mit Stoßseufzern.
Das alles verband sich zu einem vielstimmigen Chor aus Stöhnen, Geschrei und Litaneien, während das Schiff ächzend schwankte, obwohl noch nicht einmal hoher Wellengang eingesetzt hatte. Es war erst der Anfang, doch die Passagiere glaubten bereits, dies sei die härteste Probe, die ihnen der Herrgott jemals auferlegt hatte.
Auch Eleonora verließ der Mut, sie kauerte sich auf ihrem Lager zusammen, Sophia eng an sich gepresst, dahinter Klara, die ihre Hand nicht losließ.
Wenig später übergab sich der Erste in der Enge, dem bald ein Zweiter, ein Dritter folgten. Die Seekrankheit griff in rasendem Tempo um sich.
Üble Dünste stiegen auf, die Leute stöhnten vor Widerwillen und Ekel. Mehrere Gruppen drängten an Deck, wurden aber von den Seeleuten zurückgehalten. »Wir können euch hier oben nicht gebrauchen!«, rief ein grobschlächtiger Kerl mit brustlangem Bart zu ihnen hinab.
Lautes Maulen antwortete ihm, während die Leute zurückstolperten, sich anrempelten und Verwünschungen ausstießen.
Auf keinen Fall bleibe ich zehn Tage hier unten, dachte Eleonora, während sie über Sophias Haare strich. Klara hatte sich inzwischen zu Helmine
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