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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Blicke zu, die diese mit einem giftigen Funkeln quittierte.
    Getrappel hinter ihnen ließ Helmine und Marliese herumwirbeln – und da kamen sie! Bernhard schnaufte und schwitzte vom Lauf, im Schlepp einen grinsenden Alfons, dem das Rennen nicht die Spur zusetzte.
    Helmine stieß einen spitzen Schrei aus.
    »Bernhard, mein Gott, da bist du ja!« Marliese stolperte auf ihren Sohn zu, warf sich an seine Brust.
    Beifall kam auf und erfreutes Johlen, während nun auch Helmine ihren älteren Bruder umarmte.
    Marliese packte Alfons an den Schultern und schüttelte ihn. »Wo hast du gesteckt, verdammt? Mach das nie wieder, hörst du?«
    Alfons grinste nur, doch sein Lächeln schwand, als er zu seiner Schwester sah. Helmine griff sich an die Kehle, als sie in die Augen ihres schwachsinnigen Bruders schaute. Sie waren fast schwarz verdunkelt und schienen von innen heraus zu glühen. Nie im Leben hatte sie so reinen Hass gesehen.
    »Wo ist das Gepäck?«, fragte Bernhard.
    »Wird alles gesondert aufs Schiff gebracht. Komm jetzt!« Marliese fasste ihn am Arm. »Wir sind die Letzten.«
    Als sie im Boot kauerten, in dem sechs Matrosen mit ausdrucksloser Miene und oberschenkeldicken Armen die Ruder bedienten, erzählte Bernhard, wie er in der ganzen Stadt herumgelaufen sei, wie er das Ufer der Trave abgesucht und in jeder Gosse nachgeschaut habe. Wie er die Menschen angesprochen und ihnen den Bruder beschrieben habe und wie endlich eine alte Dirne erklärte, ihr sei ein solcher Kerl allein in einem Boot aufgefallen. Wahrscheinlich sei er Richtung Ostsee getrieben – falls er nicht vorher ersoffen oder irgendwie ans Ufer gelangt sei, wo ihn vermutlich jemand ins Armenhaus gepackt habe. Genau dort fand Bernhard Alfons schließlich – inmitten von zerlumpten, stinkenden, brabbelnden Gestalten, dem Auswurf der Stadt, den alle mieden wie die Pest.
    Warum hast du ihn nicht dagelassen?, schoss es Helmine durch den Sinn, während das offene Meer in ihr Sichtfeld geriet. Das gewaltige Schiff schaukelte an der Mündung, das Holz knarrte bedrohlich. Die Leute an Deck winkten ihnen, während die Segel gehisst wurden.
    »Warum hast du dich allein in dieses Boot gehockt?«, fragte Marliese Alfons, ohne eine Antwort zu erwarten. »Du hättest doch warten sollen …«
    Alfons wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Helmine, die sofort erbleichte. »Mine Russland fahre!«, stieß er hervor, verschluckte sich, hustete, wedelte heftig mit den Armen und setzte noch einmal an, während sich seine Augen erneut gefährlich verdunkelten. »Mine … Russland …«
    Marliese tätschelte ihm die Schulter. »Schon recht, Alfons. Wir fahren alle zusammen nach Russland. Auch Helmine. Mach dir keine Sorgen!«

    Bei der Ankunft an Bord erhielt jeder sein Gepäck zurück, Tagegeld für weitere vier Wochen und Proviant, der zum größten Teil aus Zwieback, Würsten und geräuchertem Schinken bestand. Außerdem stand jedem Mann täglich ein Quart Wein zu und alle drei Tage ein Quart Schnaps.
    Danach wurden alle unter Deck geschickt, in einen Raum, der viel zu eng war für die vielen Menschen. Eingeengt breiteten sie ihre Lager aus, aneinandergepresst wie die Heringe. Schon nach wenigen Minuten begann manch einer zu ahnen, dass ihnen hier unten die Luft zum Atmen knapp werden würde.
    Bedrücktes Schweigen legte sich über die Reisenden, während sie sich in der Enge einrichteten. Eltern nahmen ihre Kinder zwischen sich, junge Eheleute schmiegten sich aneinander, Freunde drängten sich im Kreis.
    Zu Christinas großer Freude hatte der Zeugmacher Daniel Meister tatsächlich Wort gehalten und sich nicht nur dem Büdinger Trupp angeschlossen, sondern es sogar bewerkstelligt, mit demselben Schiff abzusegeln. Er schlug seine Schlafstätte in einiger Entfernung zu Christina auf, da er inzwischen mitbekommen hatte, dass die hübsche Hessin in Begleitung ihres frisch angetrauten Ehemannes reiste. Das hielt sie zwar nicht davon ab, ihm immer wieder einladende Blicke unter ihrem schwarzen Wimpernfächer zuzuwerfen, aber seine Empfänglichkeit für ihre Reize ließ merklich nach. Sich auf eine Prügelei mit einem gehörnten Ehemann einzulassen – danach schien ihm nicht der Sinn zu stehen.
    Zu Christinas Rechten lagerte ihr Mann Matthias, zu ihrer Linken hatte es sich Eleonora mit Klara und Sophia bequem gemacht.
    »Das ist so eng hier«, maulte Klara und sah sich um wie ein Hase in der Falle. »So viele fremde Menschen …«
    »Ach, komm schon, Klara, viele kennst

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