Weiße Nächte, weites Land
sich merkwürdig vertraut an.
»Schläft Sophia?« Sein warmer Atem kitzelte auf ihrer Wange.
Sie nickte. »Klara hält sie umschlungen. Das beständige Schaukeln ermüdet sie zum Glück.« Sie lächelte leicht. Ihre Zähne schimmerten im Mondlicht.
»In ein paar Jahren wird sich deine Tochter nicht mehr an das Leben in Hessen erinnern«, sagte er. »Russland wird ihre Heimat sein.«
Sie betrachtete sein Profil. »Ich kann es mir schlecht vorstellen, aber … aber ja, ich wünsche es mir. Ich wünsche mir für sie, dass sie in Russland glücklich wird.«
Er drehte den Kopf, so dass sich ihre Nasen fast berührten. »Und was wünschst du dir für dich?«, fragte er leise.
Sie senkte die Lider, ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ich weiß es nicht. Sophia ist mein Leben, für Klara trage ich die Verantwortung, und ich … ich brauche nicht viel. Ich habe meine Bücher dabei«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
Er zog die Brauen hoch, richtete sich ein wenig auf, setzte sich in eine bequemere Position, ohne von ihr abzurücken. »Du liest?«
»Wann immer ich die Zeit dafür finde. Die meisten Bände hat mir der Pastor geschenkt.« Sie stieß ein Lachen aus. »Christina amüsiert sich darüber, aber für mich ist es eine wunderbare Möglichkeit, mich zurückzuziehen, wenn mir alles zu viel wird …«
Er nickte grimmig. »Christina findet vieles erheiternd.«
Sie schwieg.
»Wahrscheinlich wird es sie ebenfalls erheitern, wenn sie von meiner Leidenschaft für die Malerei erfährt. Ich habe Farben und Pinsel mitgenommen. Mit dem Malen geht es mir wie dir mit dem Lesen: Es hilft mir, mich auf mich selbst zu besinnen und die Welt außen vor zu lassen.« Ein winziges Lächeln erhellte seine Züge, als er sie ansah. »Wie das Mondlicht jetzt gerade das in den Wellen schaukelnde Schiff bescheint oder du in dieser Ecke hier mit diesem nachdenklichen Ausdruck im Gesicht … Du ahnst gar nicht, wie es mich in den Fingern juckt, zu Farbe und Pinsel zu greifen.« Er wurde wieder ernst und hob die Schultern. »Ich bin es nicht anders gewohnt, als für solcherart Gedanken belächelt zu werden. Meine Familie denkt … irgendwie anders.«
Wie gut sie ihn verstehen konnte.
Sie wollte mehr von ihm hören, alles erfahren, was ihn bewegte, was er vermisste, was er sich erhoffte, wovon er träumte, wovor er sich fürchtete …
»Manchmal habe ich Angst vor dem, was wir uns da zumuten«, sagte sie leise.
Er sah sie an, schwieg ein paar Herzschläge lang. »Nur starke Menschen bekommen schwere Wege«, flüsterte er.
Sie gewöhnten sich an, wenn alle schliefen, an Deck zu krabbeln und sich bei der Ankerwinde zu treffen. Manchmal schwiegen sie, lauschten dem Schlagen der Wellen, manchmal unterhielten sie sich über die Dinge, die ihre Gemüter bewegten. Allerdings wagte Eleonora nicht nachzufragen, was Matthias veranlasst habe, ihre Schwester zu heiraten. Die beiden schienen so gar nicht zueinander zu passen – das wurde ihr in den Stunden, die sie miteinander verbrachten, besonders deutlich. Doch vor Gott hatten sie sich das Jawort gegeben, und Eleonora blieb nichts als Träumerei, vorbeiziehenden Wolken gleich, wann immer sie und Matthias sich eine Spur zu lang anschauten.
Während ihrer vierten Nacht an Deck steckte plötzlich Christina ihren Kopf durch die Luke. Sie zog sich hoch, klammerte sich an die Reling und taumelte. Mit dem Handrücken fuhr sie sich an die Stirn, während sie sich mit käseweißem Gesicht umschaute. Ihr Blick fiel auf Eleonora und Matthias unter dem Verdeck bei der Ankerwinde.
»Hier bist du!«, fauchte sie ihren Mann an. »Ich dachte schon, du wärst über Bord gegangen!«
»Du hast geschlafen. Deswegen habe ich dir nicht Bescheid gegeben.«
»Komm runter, ich muss mit dir reden«, zischte sie, ohne ihre Schwester zu beachten.
Matthias und Eleonora sahen sich an. »Geh nur, ich bleibe noch ein bisschen«, sagte Eleonora.
»Was ist? Brauchst du erst ihre Erlaubnis?« Christina waren ihre Fröhlichkeit und sprühende Laune während dieser Schiffsfahrt komplett abhandengekommen. Sie schien von allen am heftigsten von der Seekrankheit geplagt, behielt kaum einen Bissen bei sich und lag die meiste Zeit unterdrückt seufzend auf ihrer Lagestätte. »Oh … mein Gott …« Christina beugte sich über die Reling und übergab sich. »Ich überlebe das nicht …«, brachte sie hervor, als sie sich mit dem Ärmel über den Mund wischte und wieder umdrehte.
Matthias sprang auf und führte sie
Weitere Kostenlose Bücher