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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Menschen.«
    Daniel klappte der Kiefer herunter. Bestürzt hob er die Hände. »Verzeiht, ich weiß nicht …«
    »Ich bin niemandes ›Schönste‹ – also nennt mich nicht so! Ich krieg’ die Krätze bei diesem Geschmeichel. Das wollt Ihr gewiss nicht verantworten, oder?«
    »Verzeiht, wenn ich Euch zu nahe getreten bin.« Daniel deutete eine Verbeugung an. »Gestattet mir zu erwähnen, dass wahre Schönheit für mich nichts mit makelloser Haut zu tun hat.«
    Ein winziges Lächeln flog über Anjas Gesicht, aber an dessen wachsamem Ausdruck erkannte Daniel, dass sie seit vielen Jahren gelernt hatte, auf der Hut zu sein. Er legte einen bittenden Ausdruck in seinen Blick und grinste, bis Anja ihn endlich anlachte, bevor sie wieder in Richtung Kronstadt schaute.
    Daniel versicherte sich mit einem unauffälligen Kopfdrehen, dass Christina den neckischen Wortwechsel mitbekommen hatte – und tatsächlich: Sie schob die Unterlippe vor und reckte die Nase. Es missfiel ihr, wenn er mit anderen Damen schäkerte. Das konnte nur bedeuten, dass er ihr nicht so gleichgültig war, wie sie den Eindruck zu erwecken versuchte. Nun, die Zeit würde zeigen, wie treu die Weberin wirklich war.

    Auf einem Arm hielt Eleonora Sophia, den anderen legte sie um Klaras Schultern, die sich weit über die Reling beugte.
    Gemächlich näherte sich das Schiff dem Hafen von Kronstadt, und bald fiel der Anker klatschend ins Wasser.
    Der Kapitän bestieg mit einem Steuermann und zwei Matrosen ein Ruderboot, mit dem sie das in der Nähe wartende russische Wachschiff ansteuerten.
    »Was haben die vor, Eleonora?«, fragte Klara. »Wann dürfen wir endlich an Land?«
    »Es kann nicht mehr lange dauern«, erwiderte sie und schaukelte Sophia auf dem Arm. Als sie sie absetzen wollte, begann das Kind zu quengeln, so dass Eleonora es rasch wieder aufnahm, obwohl ihr der Arm schmerzte.
    »Kommst du zu mir?« Matthias streckte Sophia die Arme entgegen. Wie ein Äffchen kletterte sie zu ihm. Er hob sie auf seine Schultern, worauf sie sich in seinen Haaren festkrallte und zu juchzen begann.
    Eleonora lächelte Matthias an. »Danke. Sie hat nicht zu jedem Zutrauen. Ich wünschte nur, wir gingen endlich an Land. Ich bin die schwankenden Planken satt …«
    »Oh, seht doch!« Matthias wies auf einen wendigen Kahn, der sich dem deutschen Schiff näherte. Darin kauerte eine Frau mit einem enganliegenden, an der Stirn mit einer Goldnaht verzierten Kopftuch inmitten von Weidenkörben voller weißer Wecken. Über dem Hemd, dessen Ärmel mit zierlichen Manschetten besetzt waren, trug sie eine blaue Leinenkutte mit unzähligen Knöpfen an der Vorderseite und einem schmalen Gürtel unter der Brust. Ihre Füße steckten in Schuhen aus geflochtenem Bast.
    Als der Kahn leicht gegen die Schiffswand stieß, hob sie einen der Körbe hoch. Sofort griffen mehrere Hände danach – zu verlockend verströmte das warme, süße Brot seinen Duft. Es gab keinen an Bord, dem der über Wochen gekaute Zwieback nicht zu den Ohren herauskam. Doch die Frau zog den Korb sofort wieder zurück und machte mit Daumen und Zeigefinger die Geste, die jeder ohne Worte verstand.
    Alle kramten in ihren Beuteln und Taschen, um die Russin mit lübeckschem Geld zu entlohnen, das sie gut zu kennen schien. Sie kauften ihr sämtliche Vorräte ab. Das rundliche Gesicht der Bäckerin leuchtete rosig vor Freude. Sie versprach mit ausholenden Gesten, zurück an Land zu fahren, um für Nachschub zu sorgen, denn immer noch reckten sich ihr Hände mit klimpernden Münzen entgegen.
    Matthias bot sowohl seiner Schwägerin als auch den Kindern das köstliche Backwerk an. Seine Frau Christina jedoch lehnte den Wecken mit einem Kopfschütteln ab.
    Eleonora musterte die Schwester besorgt. Seit Beginn der Schiffsreise hatte sie kaum einen Bissen bei sich behalten.
    Hoffentlich hatte sie sich keine ernsthafte Krankheit zugezogen. Ihre Wangenknochen stachen scharf hervor.
    »Iss!«, flüsterte Eleonora ihr zu. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, du musst bei Kräften bleiben, Christina.«
    »Ach, lass mich in Ruhe mit deinem mütterlichen Gehabe! Hast du nicht mit zwei Kindern genügend zum Verhätscheln?«, fauchte Christina sie an und drehte ihr den Rücken zu.
    Dass sie kränkelte, war die eine Sache. Dass seit Wochen mit ihr kein Auskommen mehr war, die andere. Eleonora betete, dass die Schwester zu ihrer lebhaften Wesensart zurückfand, wenn sie nur erst russischen Boden unter den Füßen

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