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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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und man die Leiche über die Reling befördern könne, damit endlich Ruhe einkehrte.
    Nachdem Bernhard gegangen war, stierte Helmine voller Verachtung auf das wimmernde Häuflein Mensch, das ihre Mutter war. Bernhard hatte ihr ein Stück Holz zwischen die Zähne geschoben, damit sie sich beim Bibbern nicht versehentlich die Zunge abbiss.
    Ein beißender Gestank nach Urin stieg von ihr auf, der Helmine Brechreiz verursachte. Ihre Mutter nässte sich ein, ohne dass es sie scherte, und wer wusste, was sonst noch alles aus ihr quoll.
    Helmines Mund füllte sich mit gallebitterem Geschmack vor Abscheu. Trotzdem beugte sie sich nun vor, dicht an das Ohr ihrer Mutter, ranzigen Geruch in der Nase. Für Umstehende mochte es aussehen, als spräche die Tochter der Kranken Trost zu, aber die Worte, die über Helmines schmale Lippen kamen, waren erfüllt von Hass: »Du solltest dich sehen, wie erbärmlich, wie hässlich du bist! Du stinkst wie eine verfaulende Ratte. Alle wenden sich vor Ekel ab, sie besprechen bereits, wie sie dich über Bord hieven werden, wenn es nur endlich vorbei ist …«

    Marliese wünschte sich zu sterben – besser tot sein, als diese Krämpfe noch eine Stunde länger ertragen. Mit aller verbleibenden Willenskraft riss sie sich zusammen, um nicht zu schreien und jämmerlich nach mehr Branntwein zu flehen.
    Sie hatte gewusst, wie sehr sie den Schnaps brauchte, aber dass sie ohne ihn zum Tod verdammt schien, hatte sie nicht geahnt.
    Wäre sie doch bloß zu Hause geblieben! Hatte sie nicht von Anfang an gewusst, dass es ein einziger Leidensweg für alle werden würde?
    Kurz kam ihr der Gedanke, sich an Deck zu kämpfen und sich über die Reling zu stürzen, damit sie dort draußen in den dunklen Fluten ein schnelles Ende fand. Damit Bernhard, Helmine und Alfons erlöst wurden – und sie.
    Ihr war nicht klar, wie viele Tage und Nächte sie nun schon litt, als sie den warmen Atem ihrer Tochter an ihrem Ohr spürte und die bösen Worte zu ihr drangen. Helmine wünschte ihr den Tod, beschimpfte sie, ließ ihrem Hass freien Lauf.
    Und etwas Seltsames geschah.
    Helmines Eiseskälte führte nicht dazu, dass sich Marlieses Leid verdoppelte und Furcht, Trauer und Schmerzen ins Unendliche steigerten. Im Gegenteil: Mit jedem verächtlichen Wort, das über Helmines Lippen kam, wurde Marliese ruhiger. Ihr Atem ging langsamer, ihr Pulsschlag verlangsamte sich, das Zittern ließ nach, die Schmerzen wurden betäubt, die Furcht löste sich auf.
    Marliese hörte auf eine bizarre Art andächtig zu, während ihre Tochter sprach.
    In dieser stillen Stunde mit der leidenden Mutter ließ Helmine ihren hasserfüllten Gefühlen freien Lauf, ungehindert von ihrem Bruder, ohne dass ein barmherziger Zeuge Einhalt geboten hätte.
    Marliese spürte in ihrem Leid, wie tief die Tochter sie verletzen wollte, wie tief deren Feindseligkeit wurzelte, so tief, dass sie sie lieber tot als lebendig sehen wollte.
    Immer leiser wurden die Worte an ihrem Ohr, als würde sich Helmine von ihr entfernen, aber der warme, vertraute Atem blieb und die Erinnerung daran, wie sie dieses Mädchen als Säugling gehalten und beschützt hatte.
    Schließlich fielen Marliese die Augen zu, die zuckenden Lider glichen verklebten Schmetterlingsflügeln.
    Sie glitt in einen tiefen Schlaf, und ihre letzte Wahrnehmung war ihr eigenes Atmen, an dem feuchten Holzstück zwischen ihren Zähnen vorbei, dreimal, viermal, tief in die Lunge, so dass der Brustkorb sich kraftvoll dehnte.

14. Kapitel
    L and!« Der Freudenruf an Deck hallte bis zum Schlaflager hinab.
    Die Ersten setzten sich auf, rieben sich die zerknautschten Gesichter und weckten die anderen, die die frohe Kunde zu verschlafen drohten. Innerhalb weniger Minuten kam Leben in den völlig verdreckten Raum.
    Einige drängelten sich bereits an der Luke, um nach draußen zu gelangen. Die grausilberne Morgendämmerung und die strahlenden Gesichter der Matrosen begrüßten sie.
    Daniel Meister hechtete als einer der Ersten an die Reling und richtete den Blick in die Ferne, wo graue Mauern und Türme aufragten. Sebastian Mai, der Junge mit der verkrüppelten Hand, folgte ihm und erkämpfte sich mit den Ellbogen den Platz neben ihm. Einträchtig staunend schauten sie über die Bucht, durch die das mächtige Schiff in ruhigem Brackwasser glitt.
    »Ist das Sankt Petersburg, Meister Daniel?« Sebastian wies mit dem ausgestreckten Finger auf die Festung.
    Daniel überspielte ein Schmunzeln mit einem Räuspern. Der Junge

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