Weiße Nächte, weites Land
kann ich mir nicht vorstellen. Wahrscheinlich sind wir kurz vor dem Ziel, und er hofft, dass er vorher noch seine gesamten Vorräte an uns verkauft.«
»Er nimmt das Doppelte und Dreifache der Preise, die wir an Land für Kuchen, Heringe und Bier bezahlen«, stimmte Anja ihm nachdenklich zu.
»Bier und Branntwein gehen allerdings zur Neige«, sagte Matthias. »Wahrscheinlich will er alles andere noch losschlagen.«
Bernhard zuckte zusammen. »Woher weißt du, dass es keinen Schnaps mehr gibt?«
»Mich haben sie gerade unverrichteter Dinge zurückgeschickt, als ich mit meinem leeren Krug um Nachschub gebeten habe.«
Bernhard warf einen Blick auf seine Mutter, die sich in einem unruhigen Schlaf wälzte. Er erhob sich.
»Was hast du vor?«, erkundigte sich Matthias.
»Ich werde mit dem Kapitän reden.«
»Wäre das nicht Sache des Vorstehers?« Anja schaute zu von Kersen, der immer noch in der Mitte des Lagers stand, dessen Stimme aber nicht mehr gegen den Lärm ankam. Kaum einer beachtete den zwergenhaften Mann noch.
Bernhard stieß verächtlich die Luft aus. »Vertraust du ihm? Der verschwendet doch seine ganze Zeit darauf, uns ruhig zu halten, statt für unser Wohl zu sorgen.«
Matthias nickte. »Viel Glück, Bernhard! Wenn du Verstärkung brauchst, gib mir Bescheid!«
»Und mir!«, fügte Anja hinzu und errötete, als beide Männer sie erstaunt anblickten.
Bernhard nickte und balancierte zwischen den Lagernden hindurch zur Luke.
Als der Flickschuster wenig später zurückkehrte, lag ein Schmunzeln auf seinem Gesicht.
»Was hast du erreicht?«, wollte Matthias wissen.
»Ich habe ihm erklärt, dass er beobachtet wurde, wie er die Segel eingeholt hat. Und wie erzürnt die Zarin sein würde, wenn sie erfährt, mit welch Niedertracht er ihre Gäste behandelt.«
Matthias hieb ihm auf die Schulter und lachte. »Vor der Zarin werfen sie sich alle in den Staub. Das war ein guter Schachzug, Bernhard.«
»Wenn du mehr Druck ausüben musst«, bemerkte Anja, »sag ihm, dass wir geschlossen in den Hungerstreik treten! Dann faulen ihm die verbliebenen Heringe unterm Hintern weg.«
Die drei Waidbacher lachten und ernteten erboste Kommentare der Umliegenden. Zu Fröhlichkeit sah in der verdreckten, engen Schiffsunterkunft niemand Anlass.
Obwohl das Schiff nun deutlich Fahrt aufnahm, war drei Tage später immer noch kein Land in Sicht. Marliese zitterte auf ihrem Lager, ihr ganzer Körper war in Bewegung, ihre verdreckte Kleidung schweißdurchtränkt, ihr Gesicht grau, das Weiße in ihren Augen gelbstichig.
Mit knochigen Fingern und spitzen Nägeln krallte sie sich in den Oberarm ihres Sohnes. »Du musst mir etwas besorgen, Bernhard, du musst! Ich sterbe sonst …«
Bernhard tupfte ihr den Schweiß ab und fuhr sich selbst mit dem Tuch über Stirn und Schläfen. Seit zwei Tagen versuchte er, von irgendwoher Branntwein aufzutreiben, aber der Vorrat für die Reisenden war aufgebraucht. Die Matrosen behaupteten, selbst nichts mehr zu haben, obwohl er schon so manchen trotz ruhigen Seegangs hatte über Deck torkeln sehen.
Am liebsten hätte Bernhard seine Mutter geschüttelt und sie angeschrieen, sie solle sich zusammenreißen, aber er spürte, dass dies nicht mehr eine Sache des Willens war. Jede Faser ihres Körpers schien nach dem Schnaps zu gieren, als wäre er ihr Lebenselixier wie für jeden anderen das Wasser. Eine Verdurstende, der er hilflos beim qualvollen Sterben zusehen musste.
Die anderen rückten von Marliese ab. Keiner wusste genau, woran sie litt, aber man munkelte, dass sie entweder vom Teufel besessen sei oder dass eine hoch ansteckende, mysteriöse Krankheit sie ans Lager fessele und in Krämpfen schüttele.
Mütter hielten ihre Kinder fern, riefen sie zurück, wenn sie neugierig nach Marliese schauen wollten, die Säuglinge schützten sie mit ihrem Körper. Veronica und Adam Mai hatten einen gutherzigen Gefährten, der in der Nähe des einzigen Ausgangs mit beständiger Frischluftzufuhr lag, überreden können, mit ihnen den Platz zu tauschen.
Bernhard hielt es nicht mehr aus und kämpfte sich durch die Luke an Deck, nachdem er Helmine angewiesen hatte, nicht von Mutters Seite zu weichen. Alfons hatte sich eng an Marliese geschmiegt, streichelte mit harter Hand ihre Haare, bis sie ihn mit einem heftigen Stoß von sich schubste.
Die Umliegenden wandten den Röhrichs den Rücken zu, um das Elend nicht mit ansehen zu müssen. Manch einer mochte hoffen, dass es mit Marliese bald ein Ende hätte
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