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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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kündigte er an, dass sie in den nächsten Tagen nicht nur den Eid auf die russische Krone sprechen mussten, sondern dass die Zarin höchstpersönlich erwartet wurde. Sie wünsche die in diesen Tagen ankommenden Landsleute zu sehen.
    Ein Flüstern ging durch die Reihen, aber mehr noch als eine Begegnung mit der Kaiserin wünschten sich die meisten ein Ende der Reise.
    Wo war nun das Land, das ihnen versprochen worden war?
    Wo durften sie sich niederlassen?
    Anton von Kersen hob beide Hände und verkündete, dass der russische Kommissar Iwan Kuhlberg sich vorstellen werde, sobald sie sich ein wenig erholt hatten. Diesem konnten sie all die Fragen stellen, auf die er genauso wenig Antwort wusste wie sie.
    Die Worte, die Kommissar Kuhlberg am nächsten Tag an sie richtete, waren für die Waidbacher Fausthiebe ins Gesicht.
    Er erklärte den Menschen, dass sie dazu bestimmt seien, an der Wolga Bauern zu werden, und dass die russische Krone andere Pläne nicht dulden würde.
    Kontakte zu Landsleuten in Sankt Petersburg oder in anderen großen Städten am Wegesrand seien strengstens verboten, die Trecks, die sich in wenigen Tagen in Bewegung setzen würden, sollten unter den größten Sicherheitsvorkehrungen geführt werden. Keinem sei es gestattet, den vorgeschriebenen Weg zu verlassen. Das Geld, das sie bereits erhalten hätten, diene ausschließlich für die Wegzehrung, bis sie das Ackerland in der Nähe von Saratow erreicht hatten, um sich dort als Bauern niederzulassen. An ihrem Ziel würden sie weitere Vergünstigungen erhalten, die es ihnen erleichtern sollten, das Land zu beackern und heimisch zu werden.
    »Wie lange werden wir bis Saratow unterwegs sein?«, erklang da Adam Mais Stimme.
    Schweigen senkte sich über die Menschen, während sie den Kommissar anstarrten und auf eine Antwort warteten. Seiner Miene war anzusehen, wie unwohl er sich plötzlich fühlte, und das trug nicht zur Besänftigung der Leute bei.
    Er räusperte sich und strich sich ein paarmal mit den Fingern übers Kinn. »Nun, das hängt auch von eurer Disziplin ab«, erklärte er da. »Aber so Gott will, werdet ihr Saratow über Land- und Wasserwege noch vor Wintereinbruch erreichen.«
    Empörte Schreie wurden laut, manche brachen schluchzend zusammen. Einige ahnten, dass eine so lange Reise weit über ihre Kräfte ging.
    Adam Mai nahm das Kind aus den Armen seiner Frau und drückte es an sich. Die Kleine hustete, ihre Stirn war fiebrig heiß. Er schloss die Augen und richtete das Gesicht gen Himmel. Seine Lippen bewegten sich im stummen Gebet.
    Marliese Röhrich sackte nach vorn wie eine Marionette, der man die Fäden abgetrennt hatte. Ihr Sohn Bernhard war zur Stelle und fing sie auf. »Ich überlebe das nicht, Bernhard. Ich schaffe das nicht …«
    Der Flickschuster biss die Zähne zusammen und fluchte leise vor sich hin, während er seine Mutter tröstend umarmte. Helmine sah auf die beiden mit überheblicher Miene herab, die Hände in die Hüften gestemmt. Alfons hockte sich mit weinerlich verzogenem Gesicht neben seine Mutter und heulte einfach mit, obwohl er gewiss nicht wusste, was sie aus der Fassung brachte.
    Christina hörte mit unbewegter Miene zu, während der Kommissar mit weit über die Köpfe hinweg schallender Stimme sprach.
    Bäuerin an der Wolga?, dachte sie. Was weißt du schon … Die Drohungen des Beamten schüchterten sie nicht ein.
    Anders erging es Anja Eyring, die nicht weit von ihr stand und die Hände vors Gesicht schlug. Die Schultern bebten. Ihr Mann Franz wollte den Arm um sie legen, aber sie schlug ihn weg. Christina ahnte, dass Anja genau wie sie ganz andere Pläne verfolgt hatte und dass sie ihren Traum nun zerplatzen sah.
    Doch sie selbst würde so schnell nicht aufgeben. Sie befanden sich nur wenige Meilen von Sankt Petersburg entfernt. Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn es ihr nicht unter Aufbietung all ihres Charmes gelingen würde, die wachhabenden Soldaten zu überzeugen, ihr zu helfen.
    Ganz gewiss würde sie sich nicht wie ein Maultier in den Treck eingliedern, um durch dieses riesige unbekannte Land zu einem erbärmlichen Ziel zu trotten.

    Eine andere Art von Autorität als die des russischen Kommissars ging allerdings wenige Tage später von Kaiserin Katharina aus. Christina kannte Bilder von ihr und die Geschichten, die man sich in den Wirtsstuben über sie erzählte, aber ihr gegenüberzustehen löste jeden Zweifel daran auf, dass diese Frau die mächtigste Herrscherin der Welt

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