Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
Vom Netzwerk:
hatten.

    Während alle anderen an der Reling darauf warteten, endlich ausgeschifft und nach Oranienbaum gebracht zu werden, das Kronstadt gegenüber auf dem Festland lag, blieben Bernhard und Marliese unter Deck.
    Drei Tage und Nächte hatte Marliese geschlafen wie eine Tote. Als sie blinzelnd die Augen aufschlug, hauchte sie mit rissigen Lippen: »Wasser, Bernhard. Gib mir Wasser …«
    Sofort rannte Bernhard los, um einen Krug des moderigen, brackigen Wassers zu besorgen, das ihnen noch zur Verfügung stand. Es nützte nichts, sich darüber zu bekümmern, welche Krankheiten es verursachen könnte und ob es die Übelkeit nicht verschlimmerte – es wurde gebraucht, und es war nichts anderes zu haben.
    Nachdem sie sich aufgesetzt hatte, umfing Marliese den Becher, den er ihr reichte, mit beiden Händen und führte ihn an die Lippen. Mit rundem Rücken lehnte sie an der Schiffswand, die dünnen Beine unter dem zerlumpten Kleid weit ausgestreckt.
    Bernhard strich ihr die Haare aus der Stirn, während sie trank. »Wir sind im Hafen von Kronstadt, Mutter. Es wird nicht mehr lange dauern, bis es neuen Branntwein gibt. Alles wird gut, alles wird besser. Bald … Halt aus!«
    Marliese trank in kleinen Schlucken und blickte ihren Sohn über den Rand des Bechers an.
    »Bernhard?« Sie setzte das Gefäß ab.
    »Hm?«
    »Gib mir nie wieder Schnaps.«
    »Wie?« Bernhard hob die Brauen.
    »Nie wieder, hörst du? Egal, wie schlimm es wird … wobei … Schlimmer, als es war, kann es nicht werden. Schlimmer würde den Tod bedeuten. Wenn ich leben will, muss ich den Schnaps meiden wie der Teufel das Weihwasser.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern, aber Bernhard spürte die Willenskraft dahinter.
    »Ich habe nun seit vielen Tagen nichts mehr getrunken, und es war die Hölle, Bernhard. Als würden sich in meinem Leib böse Geister eine blutige Schlacht liefern. Ich dachte, ich muss sterben, aber ich habe überlebt.«
    Ihr spitzes Kinn bohrte sich in seinen Hals, als er sie an sich zog und die Arme um sie schlang. »Du bist stark, Mutter, du wirst es schaffen.«
    »Ich habe Bilder gesehen, die mir Todesqualen beschert haben. Deinen Vater, wie er mit aufgerissenem Leib aus seinem Grab gestiegen ist. Es war, als würde mir die Seele aus dem Körper gefoltert … Die Strafe Gottes für meine Sünde …«
    »So straft Gott nicht«, erwiderte Bernhard dicht an ihrem Ohr. »Er hat dir verziehen, denn er hat dich überleben lassen und dir einen neuen Weg gewiesen. Einen Weg in Frieden.«
    »Ich weiß nicht, ob ich die Kraft dazu habe, ihn zu gehen. Aber ich will alles versuchen, um dir und Helmine und Alfons die Mutter zu sein, auf die ihr lange habt verzichten müssen.«
    Bernhard starrte über ihre Schulter hinweg ins Leere.
    Wie gerne wollte er ihr glauben, dass sie nicht länger von der Gier nach Schnaps beherrscht wurde. Aber er kannte sie seit Jahren nur schwach und betrunken und hegte wenig Hoffnung, dass der Keim der Stärke, während qualvoller Stunden entstanden, in Russland, wo sie den schärfsten Kornbrand »Wässerchen« nannten, wachsen würde.

15. Kapitel
    Mai 1766, Kasernenhof Oranienbaum bei Sankt Petersburg
    S ie taumelten vor Freude darüber, endlich, endlich wieder die Erde unter den Füßen zu spüren, als sie zwei Tage später, von Ruderbooten übergesetzt, in Oranienbaum eintrafen.
    Lachend und scherzend lernten sie das Gehen wieder, stützten sich gegenseitig, tollten wie Kinder und fielen sich in die Arme.
    Doch das Strahlen in den Gesichtern verblasste, als sie sich umschauten.
    Das sollte das Paradies sein?
    Für diesen Kasernenhof, in dem bereits Hunderte weitere Deutsche lagerten, sollten sie die wochenlangen Schikanen ertragen haben?
    Hier war es nicht anders als in der Lübecker Baracke, nur dass sich alles in einem noch erbärmlicheren Zustand befand.
    Nicht für alle gab es Platz in der Kaserne – viele sollten unter freiem Himmel schlafen oder sich aus Holz und Reisig Hütten bauen.
    Ein Schütteln durchlief Christina, als sie sich in die Schlange vor dem Kasernentor einreihte. Das war nicht das Ziel, ganz gewiss nicht.
    Anton von Kersen wies die Familien mit kleinen Kindern, die Alten und die Kranken an, sich einen Platz in den Kasernen zu sichern, und riet den anderen, schleunigst mit dem Bau der Hütten zu beginnen. Er versprach den Kolonisten Billetts für die Anschaffung neuer Kleider, denn die meisten trugen inzwischen nur noch Lumpen an sich. Mit wichtigtuerischer Miene

Weitere Kostenlose Bücher