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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Christina an die Seite des Fremden. Eleonora folgte ihr zögernd.
    »Entschuldigt bitte, Herr …« Christina warf die Kapuze zurück und schenkte dem Mann ihr schönstes Lächeln. Sie wusste, dass es ihr seine Aufmerksamkeit sichern würde. »Sprechen Sie Deutsch?«
    Unzählige Fältchen durchzogen sein Gesicht. Sein Alter war schwer zu schätzen, aber seine Augen blitzten jugendlich. »Das will ich meinen, meine Damen.«
    »Oh, Ihr glaubt nicht, wie froh wir sind, Euch zu treffen«, stieß Christina hervor. Eleonora befürchtete schon, sie würde ihm um den Hals fallen.
    Der Mann verneigte sich. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite.«
    »Wir … wir sind auf der Suche nach deutschen Verwandten. Weber heißen sie, sie kommen aus dem Hessischen …«
    Er runzelte die Stirn. »Weber? Ich kenne keine Familie Weber … Welchem Handwerk gehen sie nach?«
    »Das wissen wir nicht genau«, erwiderte nun Eleonora. »Wir vermuten aber, dass sie im Tuchhandel tätig sind. Vielleicht haben sie ein Modegeschäft oder eine Weberei … Und wir wissen auch nicht, ob sie tatsächlich Weber heißen …«
    Der Mann stieß ein Lachen aus und hielt sich vor Erheiterung den stattlichen Bauch, auf dem die goldenen Knöpfe seines bodenlangen Mantels tanzten. »Das nenne ich mal eine präzise Auskunft«, spottete er. »Ich bedauere, verehrte Damen, aber ich fürchte, ich kann Euch nicht weiterhelfen.«
    Als er, die Hand auf der Brust, eine weitere Verbeugung andeutete und sich zum Gehen wandte, ergriff Christina seinen Arm. »Bitte, Ihr seid unsere einzige Hoffnung … Wir haben keine Ahnung, wo wir zu suchen beginnen sollen …«
    Der Deutsche zog die Brauen hoch, als er irritiert auf Christinas Finger starrte. Sie zog sie rasch zurück, wobei ihre Wangen erröteten. »Verzeiht …« Sie senkte den Kopf und knickste.
    »Ihr seid hier schon nicht verkehrt, wenn Ihr nach Deutschen sucht. Auf der Wassilij-Insel leben die meisten unserer Landsleute. Aber wenn Ihr weder Namen noch Handwerk wisst, werdet Ihr es schwer haben …«
    Christina stiegen die Tränen in die Augen. Mit zitternder Unterlippe sah sie den Uhrmacher an. Ein herzzerreißender Anblick.
    Er hüstelte und rieb sich das Kinn. »Nun, äh … meine Gattin ist mit der hiesigen deutschen Gesellschaft vertrauter als ich. Ich könnte sie bitten herauszufinden, ob es im Tuchhandel Familien mit hessischen Wurzeln gibt. Aber … versprechen kann ich nichts.«
    »Wenn Ihr das tun würdet, Herr!« Christinas Lächeln war wie das Blinzeln der Sonne hinter Regenwolken.
    Der Mann zog eine Taschenuhr aus dem Inneren des Mantels, ließ sie aufspringen und beugte den Kopf weit zurück, um die Ziffern erkennen zu können. »Kommt morgen zur selben Stunde wieder hierher. Wenn ich etwas erfahren habe, sollt Ihr es wissen.« Damit drehte er sich um und ging seines Weges.
    Christinas Miene drückte Zuversicht aus, aber Eleonoras Züge verrieten Misstrauen. »Also einen weiteren Ausflug in der Nacht«, murmelte sie.
    »Wir sind unserem Ziel ganz nah. Ganz gewiss!«, behauptete Christina, angestrengt um Überzeugungskraft bemüht. »Komm, lass uns heimkehren!«
    Wenig später ließen sie die Geschäftsstraße hinter sich und gelangten im Laufschritt wieder in das Viertel mit den dunklen Winkeln und engen Gässchen.
    Eleonora zog es zur Kaserne zurück. Die große Stadt flößte ihr Angst ein. Ob sie tatsächlich ein weiteres Mal ihr Töchterchen alleine lassen sollte für die Hirngespinste der Schwester? Wahrscheinlich hatte sie der Uhrmacher doch für verrückt gehalten und wollte sie nur so schnell wie möglich loswerden …
    Sie hielt sich die Hand vor die Nase, weil immer wieder der Geruch nach fauligem Fisch und schalem Bier aus den Ecken zu ihnen drang. Inzwischen hatten die meisten Spelunken die Fackeln vor dem Eingang gelöscht und die Türen verriegelt. In manchem Winkel, in den das Mondlicht nicht drang, konnten die Schwestern die Hand vor Augen nicht sehen.
    Eleonora klopfte das Herz bis zum Hals. »Bist du sicher, dass wir richtig sind?« Ihr Flüstern durchbrach das angespannte Schweigen. Auch Christina hatte inzwischen ihre Unbeschwertheit abgelegt. Dunkle Wolken schoben sich vor den Mond, die Nacht wurde rabenschwarz, in den Winkeln huschte schattenhaft Getier. Hier erklang ein leises Pfeifen, da scharrten Krallen über das Pflaster. Hin und wieder vernahmen sie Schritte, laufend und verharrend, ohne dass sie eine Menschenseele sahen.
    Sie blieben jäh stehen, als

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