Weiße Nächte, weites Land
Moment hielt Matthias den Ledereinband an seine Wange.
Eleonora …
Ein Schwarm Krähen flog von der mageren Sandheide auf, die nun die Flusslandschaft prägte und auf der nur verstreute Holzhütten zu erkennen waren. Das Krächzen lärmte über die träge dahinziehenden Schiffe hinweg, als wollten die Vögel sie verspotten.
Wie anders war alles gekommen, als sich Franz das ausgemalt hatte. Er schien so sicher, dass sein Plan aufging, und wirkte wie ein schmählich zu Boden gegangener Ringkämpfer, als er in die heimische Stube getaumelt kam und tonlos verkündet hatte, Eleonora habe ihn abgewiesen. In diesem Moment hatte Matthias kurz die Möglichkeiten geprüft, seine Ehe mit Christina wieder rückgängig zu machen, aber es erschien ihm nun zu spät. Dass Franz wenige Tage später allerdings Anja Eyring als seine Braut präsentierte, überraschte Matthias nicht weniger als alle in Waidbach. Zum Wundern war ihnen aber keine Zeit geblieben, denn der Zug war bereits am nächsten Tag aufgebrochen.
Matthias schmunzelte vor sich hin und lachte leise. Er schätzte die Apothekerstochter sehr, aber wie es ihr gelungen war, das Großmaul Franz dermaßen zu verändern, würde ihm immer ein Rätsel bleiben. Irgendeine magische Kraft übte diese bemitleidenswerte und dennoch starke Frau auf seinen Bruder aus, die er sich nicht erklären konnte.
Hatte Franz nicht stets damit geprahlt, nur die schönsten Weiber wären gut genug für ihn? War nicht die Zurschaustellung seiner Manneskraft stets das hervorstechende Merkmal seines Charakters?
Und nun? Franz schlich hinter Anja her wie ein mit der Rute erzogener Hund, der fürchtete, dass der nächste Hieb kommen würde. Anja hatte für ihn nicht mehr Achtung als das Schwarze unterm Fingernagel. Dennoch ließ er nicht locker und benahm sich, als wären sie ein von Gottes Gnaden und in Liebe zueinander verbundenes Paar.
Im Kasernenhof in Oranienbaum hatte Matthias bei einer günstigen Gelegenheit Franz unter vier Augen gefragt, wie er sich in seiner Ehe fühle. Er, Matthias, habe den Eindruck, dass der Bruder allen Widrigkeiten zum Trotz am Ende doch die Richtige zur Frau genommen habe.
Franz hatte genickt. »Sie hat mich gerettet, Matthias. Sie ist die Richtige. Ohne sie wäre ich verloren gewesen. Ohne sie wäre ich daheim auf dem Hof unter der Knute der Mutter zugrunde gegangen.«
»Du bist ihr dankbar«, stellte Matthias irritiert fest.
»Dankbar, ja. Und sie wurde mir von Gott geschickt. Dafür werde ich mein Lebtag nicht aufhören, ihm zu danken.«
Matthias’ Erstaunen wuchs, während er seinem Bruder zuhörte, der sprach wie ein Sünder auf Pilgerfahrt, dem der Herrgott eine letzte Chance geschenkt hatte.
»Ich brauche sie, Matthias. Ohne Anja bin ich ein Nichts. Ich habe es gleich in den ersten Tagen unserer Reise gemerkt. Seit wir den elterlichen Hof verlassen haben, fühle ich mich, als wäre ich in einen Ozean gefallen und würde haltlos dahintreiben. In meinem Kopf dreht es sich wie ein Strudel, ich habe das Gefühl, den Boden unter den Füßen verloren zu haben. Der einzige Mensch, der mich am Untergehen hindert, ist Anja.« Er senkte die Stimme und näherte den Mund Matthias’ Ohr. Sein Bieratem stieg Matthias in die Nase, aber er lauschte besorgt. »Ich glaube, Gott hat mir diese Prüfung auferlegt. Wenn ich ein treuer, ein liebender, ein fürsorglicher Ehemann bin, werde ich dies alles hier überleben.«
Matthias war erschrocken zurückgewichen. Für einen Moment hatte er gemeint, in die irren Augen seiner Mutter zu blicken. Unstet und lodernd, als wäre der Bruder seiner Sinne beraubt. Gab es das? Ging diese Umsiedelung möglicherweise nicht über die körperlichen, aber über die seelischen Kräfte von Franz?
Den Schrecken hatte er abgeschüttelt, so schnell es ihm möglich war. Es würde nichts ändern. Sein Bruder hatte dieses Schicksal aus eigenem Antrieb gewählt, und er würde damit zurechtkommen müssen. Wenn er nun zu einem anständigen Mann wurde, dem das Wohlergehen des Eheweibs über die eigenen irdischen Gelüste ging, wäre dies nicht die übelste Entwicklung.
Ein Schatten fiel auf Matthias und verdunkelte die letzten rotgoldenen Strahlen der untergehenden Junisonne. Am Himmel zog ein Bussard mit schrillem Schrei seine Bahnen.
Matthias hielt sich den Arm über die Augen, um die Silhouette im Gegenlicht erkennen zu können. Christina. Die blonden Löckchen, die ihr Gesicht umrahmten, schillerten wie Goldfäden. Sie sah aus wie ein Engel,
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