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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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aufgemalt wirkenden Lächeln im Gesicht stolperte Alfons herbei, ließ sich vor dem Hund auf die Knie fallen, so dass seine langen Beine merkwürdig verschränkt unter ihm lagen. In der hohlen Hand reichte er Lambert ein paar Brocken Speck, die sich der Hund ohne Eile mit der Zunge herausklaubte. Das gute Fressen und die umfassende Pflege hatten ihn träge werden lassen. Alfons lachte schrill auf, und Klara zuckte zusammen, während Sophia entspannt weiterkuschelte.
    Klara rückte ein Stück von Alfons ab. Einerseits fühlte sie Mitleid mit dem absonderlichen Jungen, andererseits fürchtete sie ihn mit seinen staksigen Bewegungen, den verzerrten Zügen und den Lauten, die aus seinem spuckefeuchten Mund drangen. Was wohl aus ihm geworden wäre, wenn Helmines Plan aufgegangen wäre und er im Kahn bis zur Ostsee getrieben wäre …
    Ein Schatten fiel auf Lambert, als Helmine sich näherte und breitbeinig und mit in die Hüften gestemmten Fäusten über ihm stehen blieb.
    »Wie süß«, sagt sie, aber es klang nicht ehrlich, fand Klara. Die Stimme ihre Freundin troff vor Hohn.
    Sofort wurde Alfons’ Blick wacher, er erstarrte in der Bewegung, schielte zu seiner Schwester hoch. »Geh!«, stieß er wie ein Husten hervor.
    Helmine warf den Kopf in den Nacken und lachte hell auf. Als sie in die Hocke gehen wollte, versetzte ihr Alfons einen Stoß, so dass sie rücklings hart auf den Schiffsplanken landete. Für einen Moment lag Helmine da wie ein Maikäfer auf dem Rücken. Mit hochrotem Gesicht rappelte sie sich auf und wollte sich auf ihren Bruder stürzen, aber der hatte sich inzwischen aufgerichtet und wies mit dem Zeigefinger, dessen Nagel bis zur Haut abgeknabbert war, auf sie. »Geh, geh, geh!« In seinen Augen stand so viel Hass, dass Helmine tatsächlich zurückwich.
    »Du hast mir gar nichts zu befehlen«, zischte sie noch, wandte sich aber um und ging mit hölzernen Schritten zur Luke, die hinabführte in den Schlafraum.
    Alfons’ Züge entspannten sich, bevor er sich erneut hinkniete und mit verklärtem Lächeln den Hund streichelte, als sei nichts geschehen. Dabei fuhr seine Hand über die Ohren, den Hals und den Rücken des Tieres. Wie zufällig glitt sie weiter über Sophias schwarzen Schopf. Einmal den Hund, einmal Sophia …
    Kribbelndes Unbehagen erfasste Klara. Vorsichtig packte sie Sophia unter den Armen und hob sie hoch, während sie sich selbst aufrichtete. Alfons’ Berührung war ganz zart gewesen. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass er Böses im Schilde führte. Dennoch fand Klara es nicht richtig, dass er ihre kleine Nichte anfasste. Besser, sie brachte sie zu Eleonora.

    Die Kolonisten hielten sich nun tagsüber lieber an Deck auf als in den beengten Schlafräumen. An den meisten Tagen war die Temperatur erträglich, Wolkenberge schoben sich vor die Sonne und tauchten die Landschaften entlang des Ufers in ein diesiges Licht.
    Für die Schönheit Russlands hatten die wenigsten einen Blick. Begleitet vom Plätschern der grauen Flusswellen gegen die Bordwand, zählten die Auswanderer die Stunden und sehnten nichts mehr als die Ankunft herbei.
    Daniel Meister und Sebastian Mai gehörten zu den paar Leuten, die ganze Nachmittage damit verbringen konnten, an der Reling zu stehen und die wechselnde Umgebung zu bestaunen.
    Für Daniel wurde es ein erquicklicher Zeitvertreib, sein Wissen über die russische Sprache, die Gepflogenheiten und die Landschaften zu erweitern. Er hatte sich mit einem der Soldaten angefreundet, der ihm bereitwillig in russisch-deutschem Kauderwelsch Auskunft gab über alles, was er zu erfahren wünschte. Seine Kenntnisse teilte Daniel dann mit Sebastian, der sich auch nachts an seiner Seite hielt und trotz Daniels Schnarchen nicht von dessen Rücken wich, an dem er sich wärmte.
    Als sie wieder einmal an der Reling standen, hielt er die verkrüppelte Hand hinter sich, wie es seine Gewohnheit war. Mit der gesunden wies er auf die Steppe entlang des Wolga-Ufers, die hier mit flachen wilden Mandelsträuchern und Kirschbäumen bewachsen war. »Was sind das für Gerüste?«, fragte er und zeigte auf die hohen, grob gezimmerten Holzkonstruktionen, an denen an langen Schnüren Stofffetzen flatterten und am Ende hölzerne Klöppel, die einen rasselnden Lärm veranstalteten, wenn einer der Bauern an den Schnüren zog. Das Klappern drang über die Wolga bis zu ihnen.
    Daniel grinste. »Damit vertreiben sie die Vögel, die sich an den Kirschen gütlich tun wollen. Und schau – nach den

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