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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Menschen, die sich den Kirschen nähern, werfen sie sogar Steine.« Er wies auf die Szene, an der sie vorbeiglitten wie in einem Theater. Ein grobschlächtiger Wächter hob Gesteinsbrocken, ein möglicher Dieb hielt schützend beide Arme über den Kopf, während er die Flucht antrat.
    Wenig später stieg ihnen der beißende Geruch nach kaltem Verbranntem in die Nase, und Sebastian deutete auf die schwarzen Felder, die sich hinter einer dichten Waldung plötzlich vor ihnen erstreckten und auf denen schwarze Holzgerippe wie verrenkte Gliedmaßen auf einem Leichenfeld lagen. »Was ist da wohl passiert?«, murmelte der Junge.
    »Viele Dorfschaften müssen sich auf Kosten des Waldes Ackerraum schaffen. Dazu zünden sie die Bäume an und … tja, lassen sie liegen.«
    »Warum bleiben wir nicht hier, Meister? Wir könnten auch einen Wald abfackeln und das Feld beackern.«
    Daniel wuschelte Sebastian durch die Haare. »Das ist nicht der Plan«, erwiderte er. »Diese Ufergebiete hier sind dicht genug besiedelt. Dort, wohin man uns führt, leben überhaupt keine Menschen, und der Boden soll fett und fruchtbar sein, das Klima so mild, dass es eine Schande ist, wenn ihn keiner urbar macht.«
    Sebastian zog eine Grimasse.
    Es war offensichtlich, dass ihm fetter Ackerboden von Herzen egal wäre, wenn sie nur endlich ihr neues Zuhause erreichten.

    Zu den ganz wenigen, denen die Strapazen Kräfte und Zuversicht verliehen, statt sie bis auf den Grund der Seele auszulaugen, gehörte Matthias Lorenz.
    Niemanden überraschte das mehr als ihn selbst.
    Er war doch derjenige gewesen, der den Auswanderungsplänen voller Skepsis gegenübergestanden hatte. Er war derjenige gewesen, der sich zu einer Ehe ohne Zuneigung hatte drängeln lassen, nur damit er seine Papiere anstandslos bekam und bei der Landvergabe großzügig berücksichtigt werden würde.
    Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie in Waidbach bleiben können. Er hatte sich von Anfang an wenig von dem fremden Land versprochen – was sollte da anders sein als in der Heimat? Statt der Schwierigkeiten, unter denen sie zu Hause litten, würden sie in der Fremde dreimal so viele neue Probleme bekommen.
    Dennoch hatte er nach den ersten Meilen auf deutschem Boden in Richtung Norden mit jedem Schritt und jedem Atemzug gespürt, wie eine schier unerträgliche Last von ihm abfiel, wie seine Gedanken Flügel bekamen. Weg, nur weg! Meile um Meile.
    Selbst seine frisch angetraute Gattin, die ihm mit jedem Satz, den sie von sich gab, mehr auf die Nerven ging, vermochte seiner sprühenden Laune keinen Dämpfer zu versetzen.
    All die Jahre war Matthias kaum mal einen Tag vom elterlichen Hof gekommen, war einer Arbeit nachgegangen, die ihm nicht lag, und hatte sich von seiner Mutter drangsalieren lassen. Was für eine Befreiung, was für ein Glück, ihre keifende Stimme nicht mehr hören zu müssen, von ihren aberwitzigen Flüchen verschont zu werden, ihrer nörgelnden Gesellschaft nicht länger ausgeliefert zu sein.
    Doch die Reise hatte ihre Schattenseiten: die Angst vor den Krankheiten, die sich ständig auszubreiten drohten, das Ungeziefer, vor dem man sich kaum zu schützen vermochte, all die Toten, die sie in den schwarzen Fluten der Ostsee versenkt oder am Wegesrand begraben hatten …
    Um Marliese Röhrich hatten sie eine Zeitlang gebangt, und keiner hätte mehr eine Kupfermünze auf ihre Genesung gesetzt, doch sie hatte ins Leben zurückgefunden und wirkte kräftiger als jemals zuvor.
    Über Frieda Mai wurde auch viel getuschelt. Der Husten hatte zwar inzwischen merklich nachgelassen, aber das Kind wirkte blutleer und kraftlos. Die meiste Zeit hing es wie ein dürres Bündel in den Armen seiner Mama, statt glucksend auf allen vieren über die Schiffsplanken zu krabbeln. Wie viel lebendiger wirkte dagegen die dralle Sophia, für die dies alles nichts als ein phantastisches Vergnügen zu sein schien, Tag für Tag von Leuten umgeben, die sie neckten und unterhielten, fütterten und wiegten.
    Ein Lächeln glitt über Matthias’ Gesicht, während er den Kindern zuschaute, die mit untergeschlagenen Beinen im Kreis um Anjas Hund herumsaßen.
    Bis zu dem Tag seiner Abreise galt Matthias im Dorf als ein in sich gekehrter, schweigsamer junger Mann, der auf Freundschaften keinen Wert legte. Er hatte selbst nicht gewusst, dass er sich jedoch innerlich danach gesehnt hatte, von Menschen umgeben zu sein, die ihn besser verstanden als seine Blutsverwandten.
    Einen solchen Menschen hatte er in

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