Weiße Nächte, weites Land
Bernhard Röhrich gefunden. Unfassbar, sie kannten sich von Kindesbeinen an und hatten nie gemerkt, dass sie auf eine ähnliche Art dachten und die gleichen Ansichten über das Leben und die Welt vertraten. In Bernhard hatte Matthias den ersten Freund seines Lebens gefunden, und er war sich sicher, dass diese Freundschaft jeder Belastungsprobe standhalten würde.
Oder Daniel Meister. Nein, ein Freund war er nicht geworden, aber was für eine Bereicherung stellte der Zeugmachergeselle dar! Er wusste so viel und wurde nicht müde, seine Kenntnisse zu mehren und sie mit sprühendem Witz unters Volk zu bringen.
Keineswegs war Matthias entgangen, dass der Charme des Berliners auch Wirkung auf Christina hatte. Möglich, dass seine Ehefrau die Absicht verfolgte, seine Eifersucht zu erwecken, aber damit würde sie kläglich scheitern.
Dass sie sich wie eine läufige Hündin gebärdete, trug nicht dazu bei, dass sich seine Meinung über sie verbesserte.
Für ihn war klar, dass sie, sobald sie in der neuen Heimat Fuß gefasst hatten, eine Regelung finden würden, die beiden zum Vorteil gereichte. Möglich wäre, dass sie zwei Wohnhäuser bezogen, die Äcker aber gemeinsam bewirtschafteten.
Unangenehm berührten ihn ihre Versuche, ihn zur Ausübung seiner ehelichen Pflichten zu bewegen. Er schämte sich für ihr liederliches Verhalten und fragte sich, was in einer Frau vorgehen mochte, die sich nicht umwerben ließ, sondern den Mann mit allen verfügbaren Mitteln unter Druck zu setzen versuchte.
Warum bloß tat sie das? Was versprach sie sich davon?
Matthias war nicht blind für Christinas Reize. Selbstverständlich war sie eine begehrenswerte Frau, mancher würde sein letztes Hemd für eine wilde Nacht mit ihr geben. Auch er hätte vielleicht der Versuchung nachgegeben, wenn da nicht von Anfang an eine Ahnung von Berechnung, von Zwang, von geplantem Bemühen zwischen ihnen gestanden hätte.
Irgendetwas stimmte nicht. Sie versuchte nicht, ihn zu verführen, weil er ihr gefiel. Sie führte etwas im Schilde, was er nicht zu durchschauen vermochte. Aber er war sich sicher, dass er es irgendwann herausfinden würde, und dann wäre er immer noch frei genug zu erklären, dass ihre Ehe annulliert werden sollte, da sie niemals vollzogen worden war. Ob es etwas mit ihrem Ausbruch nach Sankt Petersburg zu tun hatte?
Zärtlich strich Matthias – den Rücken gegen die Schiffswand gelehnt, das Gesicht vom rotgoldenen Schein der Abendsonne überzogen – über den Ledereinband des Buches, das auf seinen angewinkelten Knien lag und das ihm Eleonora geliehen hatte. Als er es öffnete, flatterten die hauchdünnen Seiten in der leichten Brise. Der Geruch nach Staub und abgegriffenem Papier stieg ihm in die Nase. Es war eine Liebesgeschichte mit allerlei romantischen Verstrickungen, die sein Interesse nicht fesseln konnte, und trotzdem wollte er dieses Buch so lange behalten, bis Eleonora wieder danach fragte. Ihm gefiel die Vorstellung, dass sie es in ihren Händen gehalten und die Nase dicht darübergebeugt hatte, den hübschen Mund vielleicht halb geöffnet vor Anspannung, während der Blick Zeile um Zeile, Seite um Seite wanderte. Vielleicht hatte sie die Spitze des Zeigefingers mit der Zunge benetzt, wenn sie umblätterte.
Wie sehr hatte er die nächtlichen Stunden an Bord des Ostseeschiffes mit Eleonora genossen!
Die geflüsterten Gespräche, ihr warmer Atem an seiner Wange, ihr leises Lachen, das ihm Schauer über den Rücken jagte. Wie nah sie sich gekommen waren, und wie weh die plötzliche Erkenntnis getan hatte, dass er sich niemals von seinem Bruder hätte überrumpeln lassen sollen. Jetzt, jetzt wäre der Zeitpunkt gewesen, eine Frau um die Ehe zu bitten. Aus vollem Herzen und mit aller Liebe, zu der er fähig war.
Doch die Umstände waren nicht zu ändern, noch nicht, und hinzu kam, dass sich Eleonora seit ihrem Ausflug nach Sankt Petersburg verändert hatte.
Sie mied ihn.
Vorbei die Vertrautheit, die in den romantischen Nächten auf offener See zart gewachsen war. Irgendetwas war in Petersburg geschehen, aber Matthias war es bisher nicht gelungen, es herauszufinden. Er bemerkte nur Eleonoras Blicke, die hin und wieder, wenn sie meinte, er sähe es nicht, auf ihm ruhten und die dann sofort zu Christina wanderten, in Gedanken gefangen, die sich ihm nicht erschlossen.
Hatte er ihr nicht in den Nächten auf Deck deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihm tausendmal mehr bedeutete als ihre Schwester?
Für einen
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