Weiße Nächte, weites Land
fremdartigen Gewürzen schwängerten die Luft und erschwerten das Atmen.
An einem Stand waren blutige Schafsköpfe, auf Holzpflöcke gespießt, aufgereiht, daneben türmten sich Lammfelle. In unzähligen Holzkisten lagen frische und gesalzene Fische und verbreiteten einen bestialischen Gestank. Lange, roh gezimmerte Holztische bogen sich unter der Masse an grob gewebter Leinwand, vornehmlich mit blauer, roter und schwarzer Wolle abgenäht. Riesige Kürbisse türmten sich auf dem Boden. Der dunkelhäutige Händler reichte mit zahnlosem Grinsen gesalzenes Kürbismus in winzigen Holzschälchen zum Kosten. Marliese eilte schnell an ihm vorbei.
Doch weniger die ausgelegten Waren ließen sie staunen, sondern das Aussehen der Menschen hier. Sie konnten nicht mehr allzu weit von ihrem Bestimmungsort entfernt sein. Wie es den Anschein hatte, würden diese Halbwilden mit den dunkelhäutigen Gesichtern, den schlitzförmigen Augen und den phantasievoll bestickten Trachten ihre Nachbarn sein. Kalmücken, Kirgisen und andere Nomaden hielten sich hier auf und boten ihre Waren feil.
Marliese sank das Herz.
Wo in Gottes Namen waren sie hingeraten?
Die Frauen in diesem Wolga-Dorf hatten zum größten Teil ebenmäßige Gesichter, in denen die schmalen Kohleaugen und die flachen Nasen dominierten. Die Männer wirkten von Wind und Wetter gegerbt, ihre Haut war lederig, ihre Hände waren schwarz, behaart und schwielig.
Und diese eigenartigen Trachten … Die knöchellangen Leinengewänder der Frauen waren mit auffallenden silbernen Spangen und Brustschilden verziert, um die Mitte trugen sie Gürtel mit zur Seite herabhängenden, bunt genähten und gefransten Lappen. Am eigentümlichsten wirkten die Mützen, ohne die die Weiber nicht aus dem Haus zu gehen schienen. Sie waren dicht mit alten silbernen Kopeken oder Zinnplättchen besetzt, mit einem breiten Riemen unter dem Kinn befestigt und hinten mit einer langen Schleppe versehen, welche unter dem Gürtel durchging. Es wirkte, als baumelte der überladene Hauptschmuck bis zu den Kniekehlen hinab. Die pechschwarzen Haare der Frauen hingen in dichten Flechten, die Enden waren in das Oberhemd gesteckt.
Marliese zerrte Alfons hinter sich her und erledigte ihre Besorgungen zügig, klaubte mit fahrigen Fingern die Münzen aus dem Beutel unter ihrer Schürze und kaufte Zucker und Eier, Rüben, Gurken und Äpfel.
Schließlich eilte sie zu dem Boot zurück, das sie zum Schiff zurückbringen sollte. Auf diesem Wolga-Abschnitt war das Ufer zu felsig, als dass die großen Schiffe hätten anlegen können, und die Beiboote taten einen guten Dienst.
Weitere Kolonisten sprangen in das Beiboot, und Marliese reckte den Hals. Wo war Helmine? Die Tochter hatte ihr trocken hingeworfen, dass sie lieber allein unterwegs sein wolle. Die Besorgnis der Mutter verhöhnte sie. »Glaubst du, einer vergreift sich an mir, wenn uns bei jedem Schritt die russischen Soldaten im Nacken sitzen? Es sei denn, einen der Wächter überkommt es selbst. Nun, ein paar von ihnen sehen gar nicht abstoßend aus …«, fügte sie noch gespielt nachdenklich hinzu.
Marliese wusste, dass Helmine nur darauf abzielte, sie zu erzürnen. Trotzdem brauchte sie all ihre Beherrschung, um nicht in die Falle zu tappen. »Dann geh alleine. Aber Alfons kommt mit mir, und du bleibt in Bernhards Nähe. Und gib acht auf Klara!«
Helmine verzog spöttisch die Lippen, als fragte sie sich, was die Mutter sich einbilde, ihr Anweisungen zu erteilen.
Marliese entging diese Miene nicht.
Mit jedem Tag, den sie keinen Alkohol mehr anrührte, sah sie ein Stück klarer. Es war, als würde sie aus einem Sumpf auftauchen, und je höher sie kam, desto mehr drang das Sonnenlicht zu ihr und erhellte die Umgebung.
Wie blind war sie die vielen Jahre, die sie im Suff verbracht hatte, für alles gewesen, was sich zwischen den Menschen abspielte.
Wie sollte sie nach der langen Zeit, in der sie sich um nichts gekümmert hatte, nur wieder die Kontrolle über ihr Leben und das der Kinder übernehmen? Es schien ein unsinniges Unterfangen, als wollte man aus Abertausenden von Scherben eine kostbare Vase zusammensetzen, die zerbrochen war.
Es gab nichts zu beschönigen: Ihre Tochter war in den Jahren, die sie auf die Mutter verzichten musste, zu einem bösartigen Menschen herangereift. Marliese fragte sich, ob es ihr jetzt noch gelingen würde, ihr ins Gewissen zu reden und ihr zu helfen, eine ehrenwerte junge Frau zu werden. Sie betete jede Nacht dafür, dass
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