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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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aber alles Himmlische fiel von ihr ab, als sie den Mund aufmachte.
    »Ich muss mit dir reden«, erklärte sie schroff. »Jetzt.«

23. Kapitel
    August 1766, auf der Wolga
    D ie Schiffe nahmen Kurs auf Kasan. Die Wolga erinnerte in dieser Gegend an manchen Stellen mehr an einen See als an einen Fluss.
    Wenn die Sonne unbarmherzig vom Himmel brannte, war es weder auf Deck, wo einen die Fliegen fast auffraßen, noch im Schlafraum auszuhalten. Hier verbanden sich die Ausdünstungen und Essensgerüche zu einem ekelerregenden Gemisch, und das beständige Gedrängel und die Düsternis trieben manchen in die Raserei.
    In der zweiten Augusthälfte kam frischerer Wind auf, graue Wolken zogen über den Himmel. Die ersten Regenschauer, die auf den nahenden Herbst hinwiesen, wurden lachend und mit ausgebreiteten Armen begrüßt.
    Es gab keinen an Bord, der die Flussfahrt nicht satthatte, aber alle wussten, dass der Landweg zwar abwechslungsreicher wäre, dass dort allerdings Gefahren lauerten, die sie sich nicht auszumalen wagten, von denen aber das Heulen der Wölfe zu erzählen schien, das aus den weiten Wäldern nachts bis zu ihrem Schlafdeck drang. Trotzdem verkündeten einige, sie würden bei nächster Gelegenheit den Landweg wählen.
    Die Fahrt auf der Wolga ging unerträglich langsam vonstatten. Der schwerste Frachtwagen fahre schneller als dieser schwimmende Leichenzug, maulten manche. Hinzu kam, dass die Schiffsleute nach wie vor nicht die geringste Eile an den Tag legten. In der Nacht blieben die Schiffe liegen, tagsüber kamen sie nur wenige Werst voran.
    Daniel Meister äußerte im Kreise seiner Vertrauten die Vermutung, dass auf ihren Flussschiffen genau wie auf der Ostsee die Kapitäne eigennützig handelten, weil sie darauf bedacht waren, den größtmöglichen Profit herauszuschlagen. Das Proviantschiff, das zu der Flotte gehörte und in dem die Kolonisten die Dinge des täglichen Lebens besorgen konnten, bot die Waren zu weit überteuerten Preisen feil. Aber den Menschen blieb nichts übrig, als sich dort Brot und Frischwasser, Speck, Mehl und Eier zu besorgen, denn viel zu selten gab der Kapitän die Erlaubnis, an Land gehen zu dürfen. Zweifellos strich er einen erheblichen Gewinn ein, weswegen er, wie Daniel Meister mutmaßte, die Reise so weit als möglich in die Länge zog.
    Die Kolonisten beschlossen einstimmig, nicht einen Kanten Brot mehr von dem Proviantschiff zu kaufen.
    Sie verkündeten, dass sie selbst an Land gehen und sich nach Gutbefinden mit Lebensmitteln eindecken wollten. Daraufhin ließ der Kapitän kurzerhand mitten im Strom Anker werfen und befahl den Vorstehern, dafür zu sorgen, dass sich die Leute beruhigten.
    Anton von Kersen kam dieser Aufgabe mit sichtlicher Genugtuung nach, was die Wut der Waidbacher anstachelte. Er sollte einer von ihnen sein und fiel ihnen bei jeder Gelegenheit in den Rücken. Wäre es nicht gerade seine Aufgabe gewesen, zwischen Schiffsleuten, Soldaten und Deutschen zu vermitteln?
    Er jedoch schien seine Aufgabe darin zu sehen, den Willen der Kommandierenden durchzusetzen, und der Widerstand ließ ihn zu immer drastischeren Maßnahmen greifen.
    Daniel Meister, der sich, unterstützt von Flickschuster Bernhard Röhrich, zum Wortführer der Aufständischen entwickelt hatte, drohte von Kersen Peitschenhiebe an, wenn er nicht Ruhe gebe, worauf ein Handgemenge entstand.
    »Wir zerhauen die Ankertaue!«, schrie einer der Kolonisten. Und ein anderer hob die Faust: »Wir werfen den Kapitän über Bord!«
    Die Soldaten verzichteten darauf, ihre Gewehre einzusetzen – Daniel vermutete, dass sie sich vor der Zarin persönlich hätten verantworten müssen, wenn sie gegen die Deutschen gewaltsam vorgegangen wären. Auf diesen Umstand war es zurückzuführen, dass die Kolonisten die Überhand bekamen und der Kapitän schließlich klein beigab. Mühsam gefasst verkündete er, dass sie im nächsten Dorf den Markt besuchen durften, dass er aber den Aufstand bei den Behörden in Saratow anzeigen und ihnen dort die gerechte Strafe zuteilwerden würde.
    Die Aufständischen jubelten. Keiner glaubte daran, dass der Kapitän tatsächlich Anzeige erstatten würde – er würde nicht das Risiko eingehen, dass seine rechtswidrige Viktualienhökerei ans Tageslicht kam.

    Staunend schlenderte Marliese, Alfons an der Hand, an den bunten Ständen vorbei, die sich in der Mitte des Dorfes, das aus windschiefen Holzhütten bestand, eng aneinanderdrängten. Die verschiedensten Düfte von

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